4. Strafschärfungen, Abs. 3 und 4
a) Qualifikation (str.), § 239 Abs. 3 Nr. 1: Freiheitsberaubung länger als eine Woche
b) Erfolgsqualifikation, § 239 Abs. 3 Nr. 2: Verursachung einer schweren Gesundheitsschädigung des Opfers durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung
c) Erfolgsqualifikation, § 239 Abs. 4: Verursachung des Todes des Opfers durch die Tat oder eine während der Tat begangene Handlung
265Erforderlich ist ein Eingriff in die persönliche Fortbewegungsfreiheit einer anderen Person.
Klausurtipp
Im Zusammenhang mit unzutreffenden Anzeigen und Aussagedelikten, die zu einer Freiheitsstrafe des Angeklagten führen, ist stets an eine (versuchte) Freiheitsberaubung in mittelbarer Täterschaft zu denken. Die Strafverfolgungsorgane sind dann Tatmittler (Werkzeuge), die selbst rechtmäßig handeln, soweit sie sich im Rahmen der strafprozessualen Vorgaben halten.
266 a) Fortbewegungsfreiheit. Umstritten ist, ob bereits die potenzielle(h. M.) 542oder nur die aktuelle Fortbewegungsfreiheit 543geschützt ist. Nach h. M. ist es unerheblich, ob das Opfer sich tatsächlich fortbewegen will und das Einsperren bemerkt; es genügt, dass die bloße Möglichkeit zur Fortbewegung beeinträchtigt ist. Für diese Ansicht wird angeführt, dass in die Freiheitssphäre des Einzelnen auch dann (objektiv) eingegriffen wird, wenn der Einzelne sich nicht fortbewegen möchte. Eine weite Auslegung entspreche auch der zentralen Bedeutung der Fortbewegungsfreiheit als verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut 544. Mitunter wird die Theorie der potenziellen Fortbewegungsfreiheit dahingehend modifiziert, dass der potenzielle Fortbewegungswille nur genüge, wenn er auch aktualisierbar sei 545. Da § 239 StGB auf den persönlichen Willen des Betroffenen abstelle, könne dieser auch nicht durch Vertretungspersonen ersetzt werden. Daher seien insbesondere Kleinstkinder nicht einbezogen. Entsprechendes gelte für Betrunkene, Schlafende oder Bewusstlose, da in diesem Zustand der Wille nicht aktualisierbar sei. Hingegen sollen solche Personen in den Schutzbereich einbezogen sein, die sich zwar aktuell nicht fortbewegen möchten, aber jederzeit diesen Willen bilden können 546. Richtigerweise wird man jedoch stets einen aktuellen Fortbewegungswillen verlangen müssen. Hierfür spricht die Nähe des Delikts zu § 240 StGB, bei dem es ebenfalls auf den aktuellen und nicht den potenziellen Willen ankommt 547sowie der Wortlaut, nach dem die Freiheit „beraubt“ sein muss. Andernfalls würde die Vollendungsstrafbarkeit viel zu weit nach vorne in den bloßen Gefährdungsbereich verlagert. Möchte sich das Opfer überhaupt nicht fortbewegen, so liegt lediglich das Unrecht eines Versuchs vor, das aber (seit dem 6. StrRG 1998) nach Absatz 2 sachgerecht erfasst werden kann.
Bsp.:T schließt den O in seinem Büro ein, um sich währenddessen mit der Frau des O zu vergnügen. O bemerkt das Einschließen nicht. – T macht sich richtigerweise nur nach §§ 239 Abs. 1 und Abs. 2, 22, 23 strafbar, da die aktuelle Fortbewegungsfreiheit nicht beeinträchtigt wurde. Eine Vollendung liegt nach dieser vorzugswürdigen Ansicht nur vor, wenn O das Zimmer tatsächlich verlassen möchte.
266aIn den Schutzbereich einbezogen ist jeder Mensch, der die Fähigkeit hat, willentlich seinen Aufenthaltsort zu verändern 548. Wer – wie ein Kleinkind – überhaupt nicht die Möglichkeit zur Willensbildung und -betätigung besitzt, scheidet als Tatopfer nach allen eben genannten Ansichten aus 549, da nicht einmal von einer potenziellen Fortbewegungsfreiheit gesprochen werden kann. Umstritten ist aber, ob auf Grundlage der h. M. der Tatbestand verwirklicht ist, wenn ein Bewusstloser oder Schlafender eingeschlossen wird, da solchen Personen der Fortbewegungswille nur vorübergehend fehlt.
Bsp.:T möchte bei O ein Gemälde entwenden. Er schließt diesen im Schlafzimmer ein. Als er die Türe nach einer Stunde wieder öffnet, schläft O immer noch.
267Nach h. M. soll der Tatbestand verwirklicht sein, soweit die Möglichkeit des Erwachenswährend des Einsperrens nicht sicher ausgeschlossen ist. In diesem Fall kann man jedoch nur sagen, dass die potenzielle Fortbewegungsfreiheit betroffen ist 550. Stellt man hingegen auf die aktuelle Fortbewegungsfreiheit ab, so ist diese bei Schlafenden und Bewusstlosen ebenfalls nicht berührt. Es ist auch hier lediglich die Situation einer versuchten Freiheitsberaubung gegeben, da sich das Opfer gar nicht fortbewegen wollte. Einer Kompensation der bis zum 6. StrRG 1998 bestehenden Straflosigkeit des Versuchs durch eine extensive Auslegung bedarf es wegen der in Abs. 2 verankerten Versuchsstrafbarkeit nicht mehr.
268 b) Beeinträchtigung der Fortbewegungsfreiheit.Da vom Tatbestand nur die Fortbewegungsfreiheit,nicht aber die allgemeine Handlungsfreiheit geschützt ist, ist das bloße Versperren eines von mehreren zumutbaren Wegen nicht tatbestandsmäßig. Auch das bloße Erschweren der Fortbewegung wird nicht erfasst; die Fortbewegungsfreiheit muss aufgehoben werden. Daher wird auch das Aussperren regelmäßig nicht erfasst.
Bsp.:Kein Fall des § 239 Abs. 1 Var. 2 liegt vor, wenn T das Zimmer des O abschließt, damit er dieses nicht mehr betreten kann. O kann sich weiter an andere Orte fortbewegen.
269Andererseits muss das Hindernis, das die Fortbewegungsfreiheit beschränkt, nicht vollständig unüberwindbar sein. Die Grenze wird dabei durch Zumutbarkeitskriteriengebildet. Tatbestandsmäßig handelt auch, wer dem Opfer nur die Wahl überlässt, das Hindernis unter Inkaufnahme von nicht unerheblichen Gefahren für Leib oder Leben zu überwinden.
Bsp.:Ein Fenster im dritten Stockwerk bei verschlossener Zimmertür als Ausweg zu nutzen, ist unzumutbar, da die Gefahr erheblicher Verletzungen besteht.
270 c) Tathandlungen.Diese sind das Einsperren (Var. 1) und die Freiheitsberaubung auf andere Weise (Var. 2).
271 aa)Das Einsperrennach Var. 1 ist nur ein herausgehobener Beispielsfall; es liegt vor, wenn das Opfer in einem umschlossenen Raum durch äußere Vorrichtungen so festgehalten wird, dass es objektiv daran gehindert ist, sich von der Stelle zu bewegen 551.
272 bb)Von Var. 2werden alle übrigen Mittel erfasst, die geeignet sind, einem anderen die Fortbewegungsfreiheit zu nehmen 552.
Bspe.:Festhalten; Festbinden auf einem Stuhl; Betäuben des Opfers. Auch das schnelle Fahren mit einem Fahrzeug, um die Insassen am Verlassen des Wagens zu hindern, ist tatbestandsmäßig 553.
Hingegen genügt das bloße Fesseln der Hände nicht, wenn dabei die Fortbewegungsfreiheit nicht entscheidend tangiert wird 554. Eine Freiheitsberaubung kann auch dann vorliegen, wenn dem bereits der Freiheit beraubten Opfer noch ein größerer Radius zur Bewegung verbleibt, dieser jedoch nicht verlassen werden kann. Wird dieser Radius weiter begrenzt – eine in ein Haus eingesperrte Person wird von einem Dritten in ein Zimmer eingeschlossen –, kann eine weitere Freiheitsberaubung angenommen werden 555.
273 cc)Die Tat kann auch durch Unterlassenbegangen werden, etwa wenn der Täter einen versehentlich Eingesperrten nicht freilässt, nachdem er dies bemerkt 556. Dabei ist im Einzelfall die Garantenstellung sorgfältig zu prüfen. Bedeutung erlangt das Unterlassen zunächst beim Beschützergaranten (z. B. Eltern gegenüber Kindern), wenn ein Dritter die zu beschützende Person der Freiheit beraubt oder diese sich versehentlich selbst einschließt. Auch Amtsträger wie Polizisten oder Vollzugspersonal können im Rahmen eines Freiheitsentzugs Beschützergaranten sein 557.
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