Er brachte die Treppe mit drei großen Sprüngen hinter sich, stürzte durch die Tür und lief dann die Straße entlang, bis er einen Torweg fand.
Dort sah er sofort Johnny Svendsen. Ein mit Plastikplanen verkleidetes Gerüst war an der Hausfassade angebracht worden. Der Verdächtige kletterte rasch an den schmalen Brettern nach unten, die vor den einzelnen Etagen kleine Plattformen bildeten.
Roger Høibakk räusperte sich. »Wir haben Sie ja doch!«, rief er. »Ergeben Sie sich lieber gleich!«
Johnny Svendsen gab keine Antwort, er sprang nur eine Etage tiefer und wich zwei großen Eisenstangen aus, dann ließ er sich die letzten drei Meter auf den Boden fallen. Er drehte sich zweimal um sich selbst, kam aber sofort wieder auf die Beine und richtete eine Pistole auf den Polizisten.
Roger Høibakk konnte bei Johnny Svendsen keinerlei Anzeichen von Verzweiflung oder Resignation erkennen. Das Gesicht mit den dunklen Augenbrauen und den scharfen Augen starrte ihn wütend an, dann kam der Mann einen Schritt auf ihn zu, bereit, den unbewaffneten Beamten anzugreifen.
Roger Høibakk verfluchte die Bestimmung, dass die Polizei unbewaffnet sein musste. Er wich langsam zurück und starrte den schmalen Ausgang an. »Preben!«, rief er verzweifelt und trat mitten ins Tor, um Johnny Svendsen nicht vorbeizulassen.
Sein Gegner nutzte diesen Moment. Er entschied sich zum direkten Angriff. Schon stand er bei Høibakk, stieß ihn an und rief, er werde schießen, aus lauter Verzweiflung.
Der Polizist ließ die Arme sinken. Johnny Svendsen lief an ihm vorbei und zielte noch immer mit der Pistole auf ihn. Als er ihn passierte, streckte Roger Høibakk ein Bein aus und brachte den Mann damit ins Stolpern. Er ließ die Pistole fallen, als er sich mit beiden Händen abstützte.
Roger Høibakk stürzte auf ihn zu und schrie dabei den Namen seines Kollegen. Johnny Svendsen drehte sich zu ihm um und schmetterte ihm die Faust gegen die Nasenwurzel. Der Beamte empfand einen stechenden Schmerz. Gelbe Punkte tanzten vor seinen Augen, als er gegen die Mauer sank. Mit der Stirn stieß er gegen einen kleinen vorstehenden Stein, der zusammen mit anderen Steinen ein Muster bildete, eine Art Abschluss des Torwegs zur Straße hin. Heißes Blut schoss in seine Augen. Blind vor Wut fuhr er herum und stürzte sich auf Johnny Svendsen, der gerade die Pistole aufheben wollte. Roger Høibakk trat zu und traf ihn an der Hand. Er landete noch einen Tritt, der den Angreifer rückwärts gegen eine Reihe von Mülltonnen warf. Bei dem Höllenlärm wurden sofort mehrere Fenster weiter oben im Haus aufgerissen. Eine scharfe Frauenstimme forderte wütend Ruhe und teilte mit, der Aufenthalt im Hinterhof sei verboten. Ihre Stimme hallte an den Mauern wider und ließ viele leise neue Stimmen zwischen den Häusern hin und her wandern.
Johnny Svendsen war wieder auf die Beine gekommen. Er hatte die Pistole doch noch an sich reißen können. Seine Stimme klang verzweifelt: »Ich schieße!«, rief er und ging rückwärts durch den Torweg. Roger Høibakk glaubte ihm sofort.
Als er fast die Straße erreicht hatte, stand plötzlich Preben Ulriksen da. »Keine Bewegung!«, rief er. Johnny Svendsen fuhr herum. »Ich schieße«, sagte er noch einmal und richtete die Pistole auf sein neues Gegenüber. Seine Miene war nicht schwer zu deuten. Preben Ulriksen blieb nichts anderes übrig, als sich mit erhobenen Händen zurückzuziehen. Johnny Svendsen musterte ihn zwei Sekunden lang, dann warf er einen kalten Blick auf Roger Høibakk, machte kehrt und jagte über die Straße davon.
Preben Ulriksen meldete, dass zwei Beamte im Dienst mit einer Waffe bedroht worden seien. Sofort wurde höchster Alarm ausgelöst und der gesamte Apparat in Gang gesetzt. Bjørn Tore Lønn wurde festgenommen und darauf aufmerksam gemacht, dass das Verschweigen von Informationen einer Ermittlungsbehinderung gleichkomme. Er legte keinen Widerspruch ein, sondern versprach, mit offenen Karten zu spielen.
Roger Høibakk hielt vor der Wohnungstür die Stellung, bis eine Streife eingetroffen war. Noch immer strömte das Blut aus der tiefen Wunde über seinem Auge.
Auf der Fahrt zur Wache bedauerte Bjørn Tore Lønn mehrere Male, was hier passiert war. Roger Høibakk wurde ins Krankenhaus gebracht, weil seine Wunde genäht werden musste, während Preben Ulriksen Ermittlungsleiter Cato Isaksen und Ellen Grue Bericht erstattete.
Cato Isaksen war soeben zu Hause in Asker angekommen, musste aber in der Tür kehrtmachen und nach Oslo zurückfahren. Als er die Wache erreichte, fand er zwei wütende und aufgewühlte Kollegen vor. Ellen Grue und ihr Stab sicherten schon die Spuren in Johnny Svendsens Wohnung in der Sofies Gate. Das gesamte Material würde anschließend mit den Funden aus Ester Synnøve Lønns Wohnung verglichen werden.
»Verdammtes Schwein«, murmelte Roger Høibakk und fasste sich an die Stirn. Dort saß ein großes Pflaster. Er war sofort behandelt worden und konnte berichten, dass zwei Fotografen zur Stelle gewesen waren, als er das Krankenhaus verlassen hatte. »Wer zum Teufel lässt im Moment alles an die Presse durchsickern?«
Bjørn Tore Lønn wurde in eine Verwahrungszelle im Untergeschoss gesteckt und in die Liste der Festgenommenen eingetragen. Sie konnten ihn für vierundzwanzig Stunden festhalten, aber am nächsten Morgen würde ein Polizeijurist um die Formalitäten für die Verhängung einer Untersuchungshaft in die Wege leiten.
»Deine Intuition hat dich immerhin nicht getrogen«, sagte Preben Ulriksen und sah seinen Chef an. Er war völlig aufgekratzt nach den Ereignissen dieses Abends.
Cato Isaksen ließ sich die Sache kurz erzählen und konnte nur feststellen, dass Johnny Svendsen aller Wahrscheinlichkeit nach Ester Synnøve Lønns Mörder war. Er bat Roger Høibakk und Preben Ulriksen, einen Bericht über die Vorkommnisse dieses Abends zu verfassen.
Der Klang des Autoradios störte die Bilder in seinem Kopf. Cato Isaksen hatte nur wenige Stunden geschlafen, als er gegen acht Uhr morgens am Freitag, dem 7. Januar, wieder zur Arbeit fuhr.
Die Unruhe hatte ihn schon erfasst und machte ihn reizbar. Alle Zeichen stimmten wieder. Die Flitterwochen waren einwandfrei zu Ende. Bente und Vetle, der zweitälteste Sohn, hatten geschlafen, als er gegen zwei Uhr nachts nach Hause gekommen war. Der Älteste wohnte nicht mehr zu Hause. Er war vor einem halben Jahr mit seiner Freundin Tone zusammengezogen.
Als Erstes ging Cato Isaksen zusammen mit der gerade erst examinierten Polizeijuristin Marie Sagen zu Bjørn Tore Lønn, um diesen mit den Ereignissen des vergangenen Tages zu konfrontieren. Sie fuhren mit dem Fahrstuhl nach unten und eilten durch die Rezeption. Marie Sagen strich sich mehrere Male ihre rötlichen Haare aus den Augen. Cato Isaksen zog seinen Dienstausweis durch ein Lesegerät und trat dann in den Bereitschaftsraum. Kurz nickte er einem Kollegen zu, der sich ihnen anschloss und die Türen für sie öffnete.
Bjørn Tore Lønn saß vornübergebeugt da und rang auf seinem Schoß mit den Händen. Sein Gesicht war blass, seine Augen leuchteten schwarz in dem weißen Neonlicht. Cato Isaksen und Marie Sagen nahmen zwei Hocker mit in die Zelle.
Bjørn Tore Lønn starrte Cato Isaksen verzweifelt an. »Ich habe letzte Nacht nicht eine Sekunde geschlafen. Tut mir Leid«, murmelte er. Am Vorabend hatten sie nichts aus ihm herausholen können.
»Sie müssen uns alles sagen«, mahnte der Kommissar eindringlich. »Das ist wichtig, damit wir Johnny Svendsen so schnell wie möglich festnehmen können.«
Bjørn Tore Lønn nickte. »In Ordnung«, sagte er.
»Sie sind also einverstanden?«
Wieder nickte der junge Mann. Dann strömten die Worte nur so aus ihm heraus. Er sagte, alles tue ihm aufrichtig Leid, er sei überzeugt davon, dass Johnny Svendsen seine Schwester ermordet habe. Und das habe seine Gedanken verwirrt. Er habe nur an Rache gedacht. Er sagte nichts davon, dass er Johnny Svendsen umbringen und den Leichnam irgendwo verstecken wollte. Er behauptete hingegen, er habe dessen Adresse später melden, ihn aber vorher ordentlich zusammenschlagen wollen. »Ich konnte an nichts anderes denken. In meinem Kopf saßen viele kleine Teufel und befahlen mir, das zu tun. Ich werde ihm den Mord an Ester Synnøve nie verzeihen. Verstehen Sie, man begeht Dummheiten, wenn man hasst. Ich hasse ihn, er soll in der Hölle schmoren.« Bjørn Tore Lønn sank schluchzend vornüber. Er legte die Stirn auf seine Arme, die auf seinen kräftigen Oberschenkeln ruhten.
Читать дальше