Unni Lindell
Nachtschwester - Ein Norwegen-Krimi
Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Saga
Nachtschwester - Ein Norwegen-Krimi Übersetzt Gabriele Haefs Copyright © , 2019 Unni Lindell und SAGA Egmont All rights reserved
ISBN: 9788726341782
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Wer sieht,
weiß nicht, was er nicht sieht.
Und das Leben schleicht leise dem Grabe entgegen,
obwohl das Kind dem Tage sorglos entgegenlächelte.
Dazwischen wogt ein Leben in Wellen.
Herman Wildenvey
Acht Minuten nach Mitternacht,
Dienstag, der 20. Februar.
Die Frau wühlte im Handschuhfach nach Geld für die Straßenmaut. Zugleich konzentrierte sie sich darauf den Wagen auf der Straße zu halten. Im Autoradio sang Chris Rea mit heiserer Stimme seinen «Winter Song». Die Frau fand Geld, knallte die Klappe wieder zu und schob sich den Fünfziger zwischen die Oberschenkel. Dann legte sie wieder beide Hände aufs Lenkrad.
Die Busnische tauchte kurz vor dem Verteilerkreis auf. Die Autoscheinwerfer zerteilten die Dunkelheit und färbten das graue Wartehäuschen für einige Sekunden lang gelb, dann schweiften sie wieder über den Schneematsch und den dunklen Asphalt, ehe sie plötzlich ein junges Mädchen anstrahlten. Das Bild dieses Mädchens, das sich auf zwei Krücken lehnte, war überraschend. Sie mochte zwölf oder dreizehn sein. Vielleicht auch vierzehn. Die Frau schaute auf die Uhr. Es war acht Minuten nach Mitternacht. Das Mädchen hatte halblange blonde Haare. Sie trug einen beigen Dufflecoat und eine dunkle Hose. Die Autoscheinwerfer hielten ihr Bild einige Sekunden lang fest, und die Frau im Wagen konnte noch registrieren, dass das Mädchen an dem einen Fuß einen schwarzen Snowjogg-Stiefel mit dicker, schwerer Sohle und an dem anderen einen Gipsverband trug. Sie stützte sich auf die Krücken. Sie hatte das Gesicht halb abgewendet. Das Bild hatte etwas Beunruhigendes. Junge Mädchen sollten nachts nicht an einsamen Bushaltestellen vor Tunneleingängen herumstehen.
Die Frau fuhr in den Verteilerkreis und bog in Richtung der dunklen Öffnung ab. Sie wollte den langen Tunnel durchqueren, der unter dem Fjord an das andere Ufer führte, zur Halbinsel Hurum. Es war der 20. Februar. Es war ein Grad unter Null, in der Luft hing ein leichter Nieselregen.
Er War Eben Erst eingeschlafen, als er vom Telefon geweckt wurde. Hauptkommissar Cato Isaksen fuhr hoch. Als Erstes fiel ihm auf, dass er vergessen hatte, die Nachttischlampe auszuknipsen. Die Kriminalzeitschrift war neben das Bett geglitten und hatte sich bei einem Artikel aufgeschlagen, in dem es um ihn selbst ging.
Er griff zum Handy, drückte auf Antworten und räusperte sich zweimal, ehe er etwas sagte. Am anderen Ende der Leitung hörte er Roger Høibakk, mit dem er nun schon seit Jahren zusammen arbeitete.
«Ältere Frau in Ullevål Hageby erschossen», sagte Roger kurz. «Du hast doch wohl noch nicht geschlafen?»
Cato Isaksen warf einen Blick auf den Wecker. Der zeigte 23.16 Uhr. Es war noch immer Mittwoch, der 7. März.
«Nein», sagte er kurz und fuhr sich über die Augen. Dieses eine Mal war er früh zu Bett gegangen. Bente hatte Nachtdienst im Pflegeheim. Die Geräusche von unten verrieten ihm, dass sein Sohn Vetle noch immer vor dem Fernseher saß.
Roger Høibakk wusste nicht viel über diesen neuen Todesfall.
«Die Meldung ist eben erst eingelaufen», sagte er. «Wir sind unterwegs zum Tatort. Wann kannst du da sein?»
«In fünfundzwanzig Minuten», sagte Cato Isaksen. Er schlug die Decke zur Seite und setzte sich auf. Sein Blick fiel auf den roten Kater, der sich im Bett ausgestreckt hatte und sich jetzt am Fußende zusammenrollte.
Cato Isaksen hatte die Vorhänge nicht geschlossen. In der Fensterscheibe sah er sein weißes, scharf geschnittenes Gesicht. Er sah einen müden Siebenundvierzigjährigen mit schütteren blonden Haaren. Seine Augen im Glasbild glichen schwarzen Löchern. Nach einem Herbst mit fast nur Regen, auf den ein kalter, schneereicher Winter gefolgt war, blieb ihm nicht mehr viel Energie. Er rief seinem Sohn gereizt zu, er solle machen, dass er ins Bett komme.
«Du musst morgen in die Schule.»
Er zog sich an und begegnete seinem Sohn mitten auf der Treppe.
«Ich hab es so satt, dass du nicht selber auf die Uhr schaust», sagte er wütend. Der Sohn zuckte gleichgültig mit den Schultern.
Cato Isaksen schnappte sich seine Wagenschlüssel. Dann lief er rasch in die Küche und trank einige große Schlucke Leitungswasser, ehe er in die kühle Nachtluft hinaustrat.
Auf dem Weg zum Auto, das am Ende der Garagenanlage stand, drehte er sich kurz um und warf einen Blick auf die dicht an dicht liegenden Reihenhäuser. Eigentlich wäre er gern umgezogen, hätte sich ein Einfamilienhaus zugelegt. Aber dazu war es jetzt vielleicht schon zu spät, die Söhne waren schließlich schon siebzehn und zwanzig Jahre alt. Der Jüngste, Georg, war die meiste Zeit bei seiner Mutter. Cato Isaksen zog seine Jacke fester zu. Die Märzluft brachte einen eisigen Hauch mit. Er fror durch den Jackenstoff. Der Frühling hatte es in diesem Jahr wirklich nicht eilig.
Ullevål Hageby war bekannt wegen seiner englischen Steinhäuser mit alten Dachziegeln und kleinen Gartenparzellen. Es war ein ganz besonderer Baustil, und in den letzten Jahren war die Gegend sehr beliebt und sehr teuer geworden.
Als Cato Isaksen in die John-Colletts-Allee abbog, sah er schon aus der Ferne das Blinklicht der Streifenwagen und die Menge der Neugierigen.
Der Kommissar hielt halbwegs auf dem Bürgersteig. Er schaute sich um und ging dann auf seine fröstelnden Kollegen zu. In den kleinen Steinhäusern brannte hinter vielen Fenstern Licht.
Eine Schar von zehn bis fünfzehn Neugierigen stand hinter der Polizeiabsperrung und unterhielt sich leise miteinander. Ihre weißen Gesichter leuchteten im Schein der Lampen, die die Polizei aufgestellt hatte. Die roten und weißen Bänder schwangen im Wind langsam hin und her. Die Zuschauer musterten die Polizei und den Arzt, der zum Tatort gerufen worden war. Die gesamte Maschinerie war bereits in Gang gesetzt. Uniformierte Kollegen vom Ordnungsamt sprachen mit den Anwesenden und notierten alles, was vielleicht wichtig sein könnte. Danach baten sie die Leute, sich zurückzuziehen.
Cato Isaksen begrüßte kurz die Kollegen von der Technik. Er hielt Ausschau nach Ellen Grue, konnte sie aber nirgendwo entdecken. Die Polizei notierte die Nummern der in der Straße abgestellten Wagen und fotografierte die Umgebung.
Das Opfer, eine alte Dame, lag auf der Seite. Ein Arm war auf seltsame Weise nach hinten gebogen, so, als sei er aus Gummi. Ihre Augen waren geschlossen. Die grauen Haare waren nach vorn gerutscht und bedeckten große Teile ihres Gesichts. Cato Isaksen betrachtete den Mund mit den verkniffenen, bleichen Lippen. Der helle Frühlingsmantel wies auf dem Rücken einen großen dunklen Blutfleck auf. Das Blut war weitergeströmt und bildete jetzt auf dem Asphalt eine kleine Lache. Die Frau hatte beim Fallen einen soliden Laufschuh verloren. Dem Fahnder fiel auf, dass ihre dicken braunen Strümpfe an der Ferse gestopft waren. Noch immer durchfuhr es ihn eiskalt beim Anblick des Todes. Er konnte sich auch noch Jahre später an einzelne ausdruckslose Totenmasken aus zurückliegenden Fällen erinnern. Er blieb stehen und musterte den Leichnam. Eine armselige alte Frau. Ihre Tasche lag einen Meter von ihr entfernt. Sie war nicht geöffnet.
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