«Warum hat Alf Boris Moen nichts gesagt?»
«Das ist vielleicht kein Wunder. Sicher war es ein Schock für ihn, noch so eine Horrornachricht hören zu müssen», meinte Preben Ulriksen verständnisvoll.
Cato Isaksen ging über den Flur, erreichte sein Büro und schlug vor sich auf dem Tisch die Zeitung auf. Roger und Preben folgten ihm. «Die ist von gestern», sagte Roger Høibakk eifrig.
Cato Isaksen hatte das Gefühl das Mädchen auf dem Bild zu kennen. Lächelnd, hübsch, mit blauen Augen und blonden Haaren. Er hatte jeden Tag über sie gelesen. Sie war am 20. Februar aus Drøbak verschwunden. Kathrine Bjerke war erst vierzehn. Zuletzt war sie von einer Autofahrerin gesehen worden, die sie um kurz nach Mitternacht vor dem Eingang zum Oslofjordtunnel beobachtet hatte.
Neues gab es noch nicht. Die Umgebung, Wald und Fjord gleichermaßen, war nach ihr abgesucht worden. Cato Isaksen vertiefte sich in den Artikel. Eine Zeugin kam gleich nach Mitternacht an einer Bushaltestelle vorbei. Zwei Tage, nachdem die Zeitungen erstmals von Kathrine Bjerkes Verschwinden berichtet hatten, teilte sie der Polizei mit, dass sie an der Bushaltestelle kurz vor dem Oslofjordtunnel ein junges Mädchen mit Krücken gesehen habe. Die Polizei hält diese Beobachtung für zuverlässig. Die Frau beschrieb ein Mädchen, das große Ähnlichkeit mit Kathrine hatte, und das mit den Krücken war ebenfalls korrekt.
Die Zeitung brachte ein großes Bild dieser Zeugin. Auf ihrem Schoß saß ein Baby.
Cato Isaksen ließ sich im Sessel zurücksinken. Preben hatte Kaffee für ihn geholt. Er nahm die Tasse entgegen, ohne sich zu bedanken. Die Fahnder tauschten einen Blick. Sie kannten einander. Hatten schon zahllose Besprechungen dieser Art hinter sich gebracht.
Plötzlich stand die Abteilungsleiterin, Ingeborg Myklebust, in der Türöffnung. Sie trug ein rosa Twinset und einen braunen Rock. Sie schien guter Dinge zu sein. In der Hand hielt sie das Dagbladet.
«Die haben schon von Brenda Moen erfahren», sagte sie. «Aber sie haben den Mord noch nicht mit Kathrine Bjerkes Verschwinden in Verbindung gebracht.»
«Natürlich nicht», meinte Preben Ulriksen. «Wir wissen das ja selbst erst seit ein paar Minuten. Tolle Frisur übrigens», fügte er hinzu und zwinkerte ihr zu.
Ingeborg Myklebust ignorierte diese Schmeichelei. Alle wussten, dass sie Komplimente hasste. Sie ließ sich auf einem freien Stuhl nieder.
«Alte Damen werden hier in der Stadt ja vielleicht nicht jeden Tag erschossen», sagte sie.
«Dass Jugendliche verschwinden», sagte Roger Høibakk und gähnte, «kommt dagegen häufiger vor.»
«Sie ist erst vierzehn», sagte Ingeborg Myklebust. «Das ist also sehr ernst.»
Das fanden die anderen auch. Natürlich hatten sie den Fall schon verfolgt. Die Polizei des Bezirks Follo war zusammen mit der Kripo für die Ermittlungen im Fall Kathrine zuständig. Dass ihr Verschwinden etwas mit dem Mord an einer alten Frau in Ullevål Hageby zu tun haben sollte, wirkte unbegreiflich, aber zweifellos interessant.
«Das Spiel der Zufälle ist oft der pure Wahnsinn», sagte Preben Ulriksen und gähnte ebenfalls.
Die Abteilungschefin nickte mit ernster Miene.
«Ich finde, du solltest sofort mal mit ihrer Mutter sprechen», sagte sie zu Cato Isaksen.
«Sie wohnt in Drøbak», sagte Roger Høibakk. «Ich komme mit. Wir fahren, sowie die Kollegen aus Follo hier gewesen sind. Die können jeden Moment eintreffen.»
«Jetzt?» Cato Isaksen schaute auf die Uhr.
«Wir müssen so schnell wie möglich ans Werk gehen», sagte Roger Høibakk mit müdem Lächeln. «Anders Ovesen von der Kripo hat sich ebenfalls angesagt. Die sind seit einer Woche an der Sache dran.»
Cato Isaksen spürte, wie der Missmut in ihm aufstieg. So war es immer zu Beginn eines neuen Falles. Er wusste, dass er von nun an viele Stunden im Dienst sein würde. Aber heute durfte er nicht vergessen, Georg, seinen jüngsten Sohn, aus dem Kindergarten zu holen. Der Junge war das Resultat einer kurzen Liason mit Sigrid Velde, mit der er fünf Jahre zuvor zusammen gewesen war. In dieser Beziehung hatte es sehr viel Hin und Her und viele Verletzungen gegeben. Nachdem er fast zwei Jahre mit der Mutter des Kleinen zusammengelebt hatte, war er zu seiner Exfrau Bente zurückgekehrt und sie hatten ein zweites Mal geheiratet. Er fuhr sich rasch über das Gesicht. Er musste sich von seinen Kollegen allerlei Witze über sein Privatleben anhören. Das war an sich nicht weiter schlimm. Eigentlich waren die Sprüche ja meistens ziemlich harmlos. Er war jedoch froh darüber, dass die anderen keine Ahnung von ihm und Ellen hatten. Dass Ellen jetzt heiraten wollte, war vielleicht gar nicht so schlimm, denn für ihn bedeutete es schließlich ein Problem weniger.
Thorsen und Billington hatten ebenfalls die ganze Nacht gearbeitet. Asle Tengs dagegen war munter und ausgeruht. Preben, Roger und der junge Kollege gähnten um die Wette.
Randi Johansen wurde beauftragt, festzustellen, welche gewalttätigen Vorbestraften sich derzeit auf freiem Fuß befanden. Psychopathen, Gewalttäter, alle Typen.
«Ich nehme mir die Drogensüchtigen vor», kündigte Asle Tengs mit ruhiger Stimme an. «Auch wenn ihre Tasche noch da lag, so hatte er es ja vielleicht doch darauf abgesehen.»
Eine halbe Stunde später trafen die beiden Kollegen aus Follo ein. Cato Isaksen begrüßte sie und sammelte das ganze Team im größten Besprechungszimmer. Fünf Minuten darauf klopfte Anders Ovesen von der Kripo an die Tür. Nach zwei Minuten unverbindlichen Geplauders machten sie sich an die Arbeit. Die beiden Kollegen aus Follo legten ihr Material über den Fall Kathrine vor, Fotos und Berichte über alles, was sie bisher unternommen hatten. Es gab eine gründliche Übersicht über alle Instanzen, die sich an der Suche beteiligt hatten. Heimwehr, Rotes Kreuz und andere Freiwillige. Wann und wo sie gesucht hatten, alles war genau notiert. Im Hafenbecken hatten sie ein Mini-U-Boot und Taucher von der Marine eingesetzt, um festzustellen, ob Kathrine vielleicht ins Wasser gefallen war. Vierzehn Jahre alte Mädchen, die verschwanden, standen automatisch hoch auf der Liste der Prioritäten. Sie hatten alles unternommen, um sie zu finden. Kathrine Bjerke war ein Scheidungskind. Sie hatte einen Stiefvater, aber mit dem schien sie sich nicht sonderlich gut zu verstehen. Aber nichts in ihrer engsten Familie oder ihrem Bekanntenkreis wirkte unnormal. Sie traf ihren biologischen Vater regelmäßig und hatte ein gutes Verhältnis zu ihrer Mutter. Die Polizei hatte mit Kathrines Schule gesprochen, aber das hatte keine neuen Antworten gebracht. Die Klassenlehrerin bezeichnete Kathrine Bjerke zwar nicht als Musterschülerin, aber doch als guten Durchschnitt. Ein wenig vorlaut vielleicht, aber von der Sorte hatten sie mindestens noch vier oder fünf in der Klasse. Konnte Kathrine als Anführerin gelten? Ja und nein. War sie fürsorglich? Ja und nein. Intelligent? Ja. Es gab auch einen Bericht über ein Gespräch mit der Pastorin, bei der sie den Konfirmandenunterricht besuchte. Die Pastorin beschrieb Kathrine als ganz normal. Nicht sonderlich interessiert an Religion, aber das galt für die allermeisten, die den Unterricht besuchten. Die Polizei hatte überprüft, ob Kathrine Kontakte zur Drogenszene gehabt haben könnte. Hier waren sie gründlich vorgegangen, da Rauschgiftprobleme oft den Ausschlag gaben. Aber das Ergebnis war negativ. Politisch engagiert war Kathrine auch nicht, und das Internet interessierte sie ebenfalls nicht sonderlich.
Die Fahnder hatten Theorien aufgestellt, nach denen Kathrine möglicherweise schwanger oder unglücklich oder böse war. Ergebnisse gab es nicht, und die Auskünfte, die in ihrem Freundeskreis gesammelt worden waren, wiesen nicht darauf hin. Kathrine Bjerke konnte freiwillig verschwunden sein, wie es jedes Jahr so viele Jugendliche taten, die dann nach einiger Zeit doch wieder auftauchten. Sie konnte entführt und ermordet worden oder ins Wasser gefallen und ertrunken sein. Zuletzt gesehen hatte sie die Autofahrerin, die sie am 20. Februar einige Minuten nach Mitternacht vor dem Tunneleingang beobachtet hatte.
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