Roger Høibakk kam zu ihm herüber. Er nickte kurz.
«Jetzt geht das wieder los», sagte er.
Cato Isaksen nickte ebenfalls.
«Wer ist sie?»
«Brenda Elise Moen, fünfundsiebzig. Sie hat gleich hier in der Straße gewohnt, in Nummer 51.»
Roger Høibakk zog seine Handschuhe besser zurecht. Er reichte Cato Isaksen einen Bibliotheksausweis.
«Ihre Tasche kommt mir ganz unberührt vor. Das hier hab ich aus ihrer Brieftasche gefischt.»
Cato Isaksen nahm den Ausweis entgegen, sah ihn aber nicht an.
«Das war jedenfalls kein Handtaschenräuber.» Roger Høibakk nickte zu der schwarzen Tasche hinüber.
Cato Isaksen dachte, das wäre ja wohl übertrieben gewesen, eine alte Dame zu erschießen, nur um ihre Brieftasche zu stehlen. Aber geschossen wurde in dieser Stadt nun wirklich oft genug. In der Regel waren es Banden aus den verschiedenen Zuwandererszenen, die aneinander gerieten. Auch Drogensüchtige, Türsteher und Frauen mit eifersüchtigem Ehemann oder Liebhaber standen ganz oben auf der Liste der Opfer solcher Schießereien. Aber nicht alte Damen mit soliden Schuhen und gestopften Strümpfen.
Etwas an der Ermordeten kam ihm komisch vor. Wie sie so da lag, hilflos, auf dem Boden, mit den verschlissenen Strümpfen und den abgenutzten Schuhen, mit ihrem Frühjahrsmantel, der auch schon bessere Tage gesehen hatte. Etwas an ihr kam ihm erbärmlich vor. Und etwas stimmte nicht an der ganzen Situation.
Die nächststehende Laterne schien durch einen Baum mit kahlen Zweigen. Eine Reihe von Mülltonnen wurde gewissenhaft von zwei Polizisten untersucht. Die Hundestreife war ebenfalls am Werk. Ein Schäferhund und ein Labrador bellten kurz und ungeduldig und zerrten an ihren Leinen. Drei Streifenwagen waren im Einsatz und deren Besatzungen sahen sich die nächste Umgebung an. Vor allem hielten sie Ausschau nach einigen jungen Skatern, die ungefähr zur Mordzeit in der Gegend gesehen worden waren.
Ein Streifenwagen polterte in hohem Tempo über ein Geschwindigkeitshindernis und hielt hinter den Zuschauern. Ellen Grue von der Technik, gekleidet in Jeans und schwarze Lederjacke, und eine Kollegin stiegen aus. Der beißende Wind packte Ellens kurzen dunklen Schopf. Sie sah sich um, ehe sie auf die Straße trat und unter der Absperrung hindurch schlüpfte. Cato Isaksen ließ die kleine schlanke Frau nicht aus den Augen.
Angeblich hatte Ellen Grue sich mit einen Anwalt zusammengetan. Einem bekannten. Er war fast sechzig. Ein eleganter Mann, mit großer Wohnung, gleich mehreren Ferienhäusern und viel Geld. Aber alt, dachte Cato Isaksen. Ihm war die Sache überaus unangenehm. Ellen war eine pflegeleichte Geliebte gewesen, pflegeleicht und doch schwierig. Sie verstanden einander. Hinterher gab es niemals irgendwelche Scherereien. Einmal hatte Ellen gesagt, sie habe das Gefühl ihn auszunutzen, nicht umgekehrt. Er hatte es fantastisch gefunden, das von einer Frau zu hören. Aber eben weil die Beziehung so leicht gewesen war, war er sich auch einige Male wie ein Betrüger vorgekommen. Ellen nervte nicht, hatte ihn vielleicht durchschaut. Oder sie brauchte ihn nicht zu durchschauen, weil sie ihn verstand. Aber jetzt verletzte es ihn doch, dass die Sache für sie nicht wichtiger gewesen war.
Sie nickte ihm kurz zu, streifte ihren Papieranzug über und zog ein Paar Plastiksocken aus einer Tasche.
«Zieh du auch welche an», rief sie und warf ihm zwei blaue Socken zu. Dann zog sie sich eine hellgrüne Haube über die Haare.
Cato Isaksen streifte die Plastiksocken über seine dicken Schuhe und rieb sich kurz das Gesicht. Plötzlich fühlte er sich ausgesprochen munter.
Ein Journalist war dazu gekommen und rief Cato Isaksen etwas zu. Das Blitzlicht zerfetzte den dunklen Frühlingsabend mit seinem harten weißen Flackern. Der Kommissar fuhr gereizt herum und wollte ihn vertreiben.
«Sie wissen doch, dass wir nichts sagen dürfen, so lange die Angehörigen nicht informiert sind», sagte er.
Das junge Paar, das im nächststehenden Haus wohnte, saß in einem Streifenwagen und machte seine Aussage. Offenbar hatten die beiden etwas gesehen. Sie hatten den Mord bei der Polizei gemeldet und von den jungen Skatern erzählt, die kurz vorher vorbeigefahren waren.
Roger Høibakk trat wieder neben ihn. Das Licht einer auf einem Stativ angebrachten Lampe beleuchtete die eine Hälfte seines Gesichtes. Cato Isaksen fiel auf, dass die dunklen Haare seines Kollegen hinter dem Ohr ein wenig grau wurden.
Wir werden langsam alle alt, dachte er traurig.
Das Haus war keine hundert Meter vom Tatort entfernt. Brenda Elise Moen war Witwe, wie Roger jetzt berichtete. Ihr Mann war schon viele Jahre tot. Das Opfer hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Der Sohn war unter derselben Adresse gemeldet wie die Mutter.
Cato Isaksen schaute seinen Kollegen mit ernster Miene an und nickte.
«Schnapp dir einen jungen Kollegen und sieh dir die Nr. 51 an», sagte er.
Roger Høibakk und der junge Polizeianwärter gingen die Straße entlang. Zwei Neugierige folgten ihnen langsam. In der Auffahrt zur John-Colletts-Allee 51 stand ein weißer Volkswagen Passat CL. Im Erdgeschoss war alles dunkel. Im ersten Stock brannte Licht. Das Tor stand offen. Die Polizisten gingen über den schmalen Kiesweg zwischen den Gartenparzellen. Eine steile Steintreppe führte zur Haustür. Dort waren untereinander zwei Namensschilder angebracht. Das trübe Licht, das durch die Buckelglasfenster der Haustür fiel, machte es möglich, die Namen zu entziffern. Brenda E. Moen stand neben der Klingel für das Erdgeschoss, der Name des Sohnes, Alf B. Moen, neben der für den ersten Stock.
Roger Høibakk drückte auf den oberen Klingelknopf. Er merkte, dass der junge Kollege aufgeregt und nervös wirkte.
«Erstes Mal?», fragte er. Der Junge schüttelte den Kopf. «Zweites», sagte er.
Høibakk klingelte noch einmal. Nach einer Minute hörten sie, dass drinnen eine Tür geöffnet wurde. Die Lampe über der Haustür wurde eingeschaltet, und Schritte auf der Treppe verrieten, dass jemand zu ihnen unterwegs war.
Ein Mann mittleren Alters, dessen runder Bauch unter seinem gestreiften Bademantel verborgen war, öffnete die Tür. Er war nicht besonders groß, fast kahl, hatte aber noch rötlichen Haarflaum an den Ohren. Seine Füße leuchteten in der Dunkelheit kreideweiß. Er musterte die Besucher neugierig.
Roger Høibakk stellte sich vor und fragte, ob er mit Brenda Elise Moen verwandt sei.
Der Mann sah ihn an. Sein Gesicht nahm einen wachsamen Ausdruck an, dann drehte er sich um und schaute zur Tür hinüber, die zur Erdgeschosswohnung führte. Die war verschlossen.
«Brenda Moen ist meine Mutter», sagte er und nickte zur Tür hinüber. «Sie wohnt dort.»
Als Roger Høibakk versuchte, ihm möglichst schonend beizubringen, was geschehen war, musterte der Sohn ihn zuerst verständnislos, dann wurde er wütend. Er schaute kurz auf die Uhr, die inzwischen fast Mitternacht zeigte, lief zur Tür seiner Mutter und klingelte dort. Als nichts passierte, wollte er aus seiner eigenen Wohnung den Schlüssel holen.
«Bestimmt schläft sie», sagte er, als habe er nicht gehört, was der Polizist ihm mitgeteilt hatte.
«Das ist nicht nötig», sagte Roger Høibakk. «Ich habe Ihnen wirklich die Wahrheit erzählt, sie ist tot.»
Aber Boris Moen war jetzt sichtlich verwirrt und wollte sofort zum Tatort laufen, aber die Polizisten konnten ihm das wieder ausreden.
«Warten Sie auf jeden Fall, bis Sie sich ein wenig beruhigt haben», sagte der junge Polizist und beugte sich freundlich etwas in seine Richtung.
«Er hat getrunken», flüsterte er dann seinem Kollegen zu.
Roger Høibakk nahm den scharfen Geruch wahr, meinte aber, der könne auch eine andere Ursache haben. Terpentin vielleicht.
«Haben Sie getrunken?», fragte er. Alf Boris Moen schüttelte energisch den Kopf Er wich zurück, tastete nach dem Geländer und ließ sich auf eine der untersten Stufen fallen. Offenbar litt er unter Atembeschwerden, und Roger Høibakk bat den Kollegen, einen Arzt zu holen.
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