Gerade, als Frau Brigitte Veldten hereinkam, wurde Dr. Veldten telefonisch zu einem Kranken der Nähe gerufen. So blieben Gerhard und Frau Brigitte allein. Er war darüber nicht böse. Denn er hatte die warmherzige, gescheite Frau seines Freundes sehr schnell in die Freundschaft einbezogen. Eine Plauderstunde mit ihr war immer ein menschlicher Gewinn.
„Das war wohl Ihre Kusine Annelore, Gerhard, mit der Sie gestern an mir vorbeikamen? Ja? Ein entzückendes Geschöpfchen! Ist es richtig, dass Fräulein Werffen mutterlos ist?“
„Ja. Die Mutter ist gestorben, als Annelore noch ein kleines Kind war. Leider hat mein Onkel keine Erzieherin finden können, die es verstanden hätte, der kleinen Annelo etwas Ersatz für den Verlust zu geben.“
Nachdenklich sagte Frau Brigitte:
„Dann muss es doch für die Kleine recht einsam im Haus gewesen sein. So ein Mädelchen ohne Mutter —“
„Und um so mehr, als mein Onkel Werffen ein vielbeschäftigter Mann ist. Er hängt unendlich an seiner Tochter und sie an ihm. Jedoch viel Zeit konnte er ihr nie widmen.“
„Aber ein solch junges Geschöpf braucht doch jemanden, an den es sich anschliesst. Eine Frau, mit der es über Dinge sprechen kann, für die auch der Vater ungeeignet ist. Braucht Erfahrung und Güte.“
„Ja, liebe Frau Brigitte, soweit ich dazu in der Lage bin, vertrete ich die Rolle einer etwas vorgeschrittenen Kinderfrau.“
Brigitte streifte Gerhard mit einem kurzen, forschenden Blick. Sie antwortete nicht.
Gerhard hatte diesen eigentümlichen Blick beobachtet: „Ich lese so etwas, wie Missbilligung in Ihren Augen, Frau Brigitte. Sie sind doch sonst so offen. Erscheint Ihnen da etwas unpassend?“
„Unpassend?“ sagte Frau Brigitte zögernd, „das wäre nicht das richtige Wort. Etwas ungewöhnlich eher und, lieber Gerhard, auch nicht ganz unbedenklich für Sie beide.“
„Da sehen Sie wohl doch zu schwarz, Frau Brigitte. Wir sind doch schliesslich nahe Verwandte.“
„Haben Sie noch nie daran gedacht, dass diese Vertrautheit eines so jungen Mädchens einem Manne gegenüber — auch wenn er ihr Vetter ist — zu einer seelischen Bindung führen kann, an die Sie nicht denken?“
„Sie haben wahrscheinlich recht, Frau Brigitte. Aber ein solcher Gedanke ist mir nie gekommen. Wir Männer wissen so wenig von dem, was in so einer Mädchenseele vorgeht. Aber da kommt mir ein wundervoller Gedanke: Frau Brigitte, dürfte ich Annelore nicht einmal zu Ihnen bringen? Ich habe so das Gefühl, Sie könnten ihr etwas sein. Ich habe ihr auch schon von Ihnen erzählt.“
„Aber gern, Gerhard, wenn Sie glauben — Ihre kleine Kusine soll mir willkommm sein. Ich habe ja aus meiner Lehrerinnenzeit einige Erfahrungen im Umgang mit jungen Menschen.“ Mitten aus dem weiteren Gespräch fragte Frau Brigitte plötzlich:
„Sagen Sie mal, Gerhard, gedenken Sie denn immer so einschichtig durchs Leben zu gehen? Ist Ihnen denn noch nie ein junges Mädchen begegnet, das ein tieferes Interesse bei Ihnen geweckt hat?“
Ganz erschrocken richtete sich Gerhard aus seiner bequemen Plauderstellung auf:
„Mir? Nein! Aber wie um alles in der Welt kommen Sie auf diese Idee, Frau Brigitte?“
Lachend sah Brigitte zu Gerhard hinüber. Ein Blick warmer Freundschaft streifte ihn.
„Ist denn das etwas so Unmögliches? Ich würde mich herzlich freuen, wenn Ihnen jemand begegnete, den Sie lieben lernten. Für Sie und für das Mädchen. Ihre Frau wird es mal sehr gut bei Ihnen haben. Und Sie wissen doch, Frauen, die selbst glücklich sind, möchten auch ihre Freunde gern glücklich sehen.“
Mit komischem Entsetzen wehrte Gerhard ab:
„Mir ist ganz wohl so, Frau Brigitte. Ich möchte an meinem Leben gar nichts geändert sehen.“
„Wenn das nur so bleibt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass gerade ein Mensch wie Sie einsam durchs Leben gehen will. Ich glaubte immer, Sie hätten ein starkes Bedürfnis, einen Menschen zu lieben, für ihn zu sorgen und ihn zu beschützen.“
Gerhard antwortete nicht. Er hielt erstaunt den Blick auf Frau Brigitte gerichtet. Seine Züge bekamen einen grübelnden Ausdruck. Hatte Brigitte nicht recht? Hatte er nicht tatsächlich manchmal schon ähnliche Gedanken gehabt? Tagträume, die er schnell von sich wies? Sah er seine Stellung zu Annelore wirklich nur als die eines Beraters und Schützers an? Gerade wollte er etwas sagen, als draussen die Korridortür ging. Fritz Veldten trat ins Zimmer.
„Habt ihr euch gut unterhalten, ihr beiden?“ Er küsste seine Frau auf die Stirn, „was ist denn mit Gerhard los? Der macht doch sein Grüblergesicht. He, Gerhard, wollen Sie noch eine welterschütternde Erfindung machen?“
„Welterschütternd? Nein! Aber ich fürchte fast, eine Entdeckung habe ich eben gemacht.“
*
Am nächsten Tage sassen Geheimrat Werffen, Gerhard Hessenbrock und der Syndikus Dr. Walther in Werffens Arbeitszimmer zusammen. Geheimrat Werffen hatte darauf bestanden, den neuen Vertrag mit Gerhard über dessen Erfindung sofort abzuschliessen.
Dr. Walther übergab Gerhard einen Entwurf aus der Mappe, in den nur noch die Ziffern über prozentuale Beteiligung einzusetzen waren.
„Herr Dr. Hessenbrock, dieser Vertrag hätte eigentlich vor der Patenteintragung erfolgen müssen. Es muss eine reinliche Linie zwischen Ihren Rechten und denen der Werffenwerke gezogen werden. Sie mögen ein guter Chemiker sein. Ein tüchtiger Kaufmann sind Sie bisher nicht. Aber auch die Werffenwerke müssen sich dagegen sichern, dass Sie nicht eines Tages unangemessenene Ansprüche erheben.“
Gerhard lachte: „Diese Besorgnis haben wohl weder Sie ernsthaft, noch sonst jemand im Werk.“
Geheimrat Werffen nickte Gerhard zu. „Nein, die Besorgnis hat niemand. Aber ich kann eines Tages sterben, Gerhard, die juristische Form der Werffenwerke kann geändert werden. In solchen Dingen ist falsche Sentimentalität nicht am Platze. Sieh dir die Quote an“, Geheimrat Werffen schob Gerhard ein Vertragsformular, in das er Zahlen eingesetzt hatte, herüber, und Gerhard erklärte sich einverstanden. Er unterzeichnete und nahm das gegengezeichnete Vertragsformular an sich. Werffen wandte sich nochmals an den Syndikus:
„Wie steht es mit den Patentanmeldungen für das Ausland, Herr Doktor?“
„Die sind in die Wege geleitet, Herr Geheimrat. Vorläufig sind wir ja durch die Anmeldung hier geschützt.“
„Beschleunigen Sie die Auslandsanmeldungen! Und du, Gerhard, lass bitte Muster und Versuchsmaterial für das Ausland vorbereiten. Hier“, Werffen nahm eine Anzahl Telegramme vom Schreibtisch, „es liegen eine Anzahl dringender Auslandsanfragen bereits vor. Es ist überraschend, wie schnell man sich bemüht, eine neue Verbindung anzuknüpfen, um den drückenden Bedingungen der bisherigen Farbstoffgesellschaft zu entgehen.“ Mit einem leisen Seufzer setzte er hinzu:
„In diesem vertrauten Kreis kann ich’s ja ruhig sagen: Mir wäre es lieber, wenn die Entwicklung nicht so schnell vor sich ginge. Die Geldinvestierungen wachsen einem sonst zu leicht über den Kopf.“
„Ist sonst noch ein Punkt zu besprechen, meine Herren? Nein? Dann auf Wiedersehen.“
Die ersten Tage hatte sich Heinz Mühlensiefen im Werffenwerk recht unbehaglich gefühlt. Hier imponierte niemandem die Tatsache, dass er der Sohn seines Vaters war. Bei einigen der Herren, hatte er ein leises ironisches Lächeln zu sehen geglaubt, als er davon sprach. Sehr bald hatte er sich davon überzeugt, hier war der Name nichts, die Leistung alles. Er war doch schon in der Welt herumgekommen. Aber eine so eigenartige Auffassung, wie in den Werffenwerken war ihm noch nicht begegnet. Als zukünftiger Inhaber der Mühlensiefenwerke hatte er immer mit einem gewissen Hochmut auf die kleinen Angestellten herabgesehen. Die hatten doch kein anderes Interesse, das war bisher seine feste Überzeugung, als für ein möglichst hohes Gehalt so wenig sich anzustrengen, wie nur möglich. Hier schien das anders zu sein. Als es 5 Uhr schlug — Dr. Mühlensiefen hatte vorsorglich seinen Platz schon aufgeräumt — sah er mit Erstaunen, dass die meisten der Herren keinerlei Eile zeigten. Wer mit seinem Pensum fertig war, freilich der rüstete sich zum Gehen. Aber die anderen taten so, als ob es ganz unwichtig sei, dass die Sirene das Schlusszeichen gegeben hatte.
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