Immer weniger gelang es ihr, die Interessen ihrer Freundinnen zu teilen, um so mehr, als ihre Lieblingsfreundin Dorothee in einer Pension in Genf weilte. Immer weniger, das oberflächlich-vergnügte Leben der jungen Mädchen ihrer Kreise mitzumachen. In die Gesellschaftsschicht des Geheimrats Werffen war die Not und Sorge, der jetzigen Zeit bis an die Töchter noch nicht herangekommen. Die Männer freilich spürten allenthalben die Unsicherheit der gesamten Wirtschaftsverhältnisse. Und in einem Hause, in dem die Frau und Mutter Mittelpunkt war, mochte es wohl sein, dass man diese Sorgen auch von der Frau mit tragen liess. Bei Werffens aber hütete der Geheimrat sich ängstlich, seine Annelore mit irgend etwas zu beschweren. Auch die Freundinnen aus der Schulzeit lebten glücklich und sorglos dahin. Nur Annelore war innerlich weder glücklich, noch sorglos. Sie sprach nicht von sich. Nur, sie sah sehr blass aus. Etwas Müdes lag auf dem schmal gewordenen Gesichtchen. Sogar der Geheimrat bemerkte es, trotzdem er, in den neuen Unternehmungen beschäftigt, für alles Ausserberufliche wenig Aufmerksamkeit hatte.
„Fehlt dir etwas, Kind?“ hatte er beim Abendbrot gefragt. „Du siehst so schlecht aus. Brauchst du Zerstreuung? Ich sehe jetzt so selten deine Freundinnen bei dir. Lade sie dir doch ein. Oder willst du reisen? Ich hörte gestern von Senator Stübbe, dass er seine Familie für ein paar Wochen an die Riviera schicken will. Du brauchst nur ein Wort zu sagen und ich bitte Frau Stübbe, dich mitzunehmen. Sie wird es sicher gern tun. Ich glaube, du hast Luftveränderung nötig.“
„Nein, nein“, hatte Annelore entschieden gesagt und den Vater flehend angesehen, „ich brauche nichts. Ich bin ganz gesund. Mir fehlt nur —“
Aber sie hatte nicht zu Ende gesprochen, was ihr fehlte. Plötzlich war sie vom Tisch geflohen und tränenüberströmt in ihr Zimmer gelaufen.
Kopfschüttelnd und ernstlich besorgt hatte der Geheimrat seiner einzigen nachgesehen. Noch am selben Abend rief er den alten Hausarzt, Sanitätsrat Brambach, an, um seinen Besuch zu erbitten. Aber unglückseligerweise musste Dr. Brambach am nächsten Morgen zu einer Familienfeier verreisen. Er schlug seinen Vertreter Dr. Veldten vor:
„Nehmen Sie Veldten, lieber Geheimrat“, sagte er, „er wohnt in Ihrer Nähe. Ich kenne ihn genau. Denn er hat eine Zeitlang bei mir gearbeitet. Er ist tüchtig und modern. Er will vor allem, genau wie ich es tue, nicht die Krankheit, sondern den Menschen heilen. Ich habe die Überzeugung, er hat die richtige Art für unsere kleine Annelore.“
Am nächsten Tage wurde Dr. Fritz Veldten in die Villa Werffen gerufen. Brambachs Empfehlung erfreute ihn sehr. Geheimrat Werffen selbst führte Veldten in Annelores Zimmer.
Mit müdem Gesicht reichte Annelore Dr. Veldten die Hand, der herzlich sagte:
„Gnädiges Fräulein, wir, das heisst meine Frau und ich, haben schon oft von Ihnen gehört, Ihr Vetter, Gerhard Hessenbrock, mein liebster Jugendfreund, hat uns schon sehr oft von einer Kusine Annelore erzählt.“
Annelores Gesicht wurde lebhafter. „Ach Gerhard“, sagte sie und verstummte dann sofort. Dr. Veldtens Blick streifte Annelore kurz. Ihm war die plötzliche Lebhaftigkeit Annelores bei der Nennung von Gerhard Hessenbrocks Namen nicht entgangen und ebenso nicht ihr plötzlich verlegenes Verstummen.
„Aha“, dachte er, „sollte ich schon auf den Kern der Krankheit gekommen sein? Vielleicht hat dies kleine Mädel einen Herzenskummer, der sich im Körper auswirkt.“ Jedenfalls fühlte er, er hatte Annelores Vertrauen einfach durch die Tatsache seiner Freundschaft mit Gerhard Hessenbrock gewonnen. Freiwillig gab Annelore ihm auf seine vorsichtigen Fragen Auskunft und liess sich willig untersuchen.
Im Nebenzimmer wartete Geheimrat Werffen. Bald kam Dr. Veldten wieder herein.
„Haben Sie bei meinem Kinde etwas feststellen können, Herr Doktor. Ist es etwas Ernstes?“
„Keinerlei Grund zur Beunruhigung, Herr Geheimrat. Organisch ist bei Ihrem Fräulein Tochter alles in Ordnung. Ich habe den Eindruck, dass Ihr Fräulein Tochter von irgend etwas bedrückt ist.“
„Aber wovon denn“, fragte der Geheimrat erstaunt, „sie hat doch alles, was sie gewünscht, Vergnügungen, keine Sorgen. Sie kann tun und lassen, was sie will.“
Veldten lächelte fein:
„Vielleicht ist es gerade das, Herr Geheimrat, dass Fräulein Annelore keinerlei Sorgen hat. Oder besser gesagt, keine Pflichten. Ich glaube, sie fühlt sich zwecklos auf der Welt. Und bei ihrem tiefen Gemüt wird das nicht das richtige sein. Wenn sie einen festen Pflichtkreis hätte, Aufgaben, Sorgen, wie sie ein junges Mädchen aus kleinen Verhältnissen hat, vielleicht wäre sie gesünder.“
Etwas ärgerlich sagte der Geheimrat: „Aber ich kann sie doch nicht deswegen in irgendein Büro stecken. Ich weiss nicht, was das jetzt mit den jungen Mädchen ist. Früher hatten sie auch keinen Beruf. Früher heirateten sie eben. Und damit war alles in Ordnung.“
„Ja, Herr Geheimrat, auch darin ist es heute anders. Heutzutage heiratet ein junges Mädchen doch nur, wenn sein Herz spricht. Das Leben ist eben anders geworden. In Ihrem Berufsleben doch auch. Glauben Sie nicht, dass auch die Frauen sich ändern, im Laufe der Zeit sich anders entwickeln?“
„Sie mögen recht haben, Herr Doktor. Man kommt gar nicht recht dazu, darüber nachzudenken vor lauter beruflichen Sorgen. Was machen wir aber praktisch mit meiner Tochter? Ich hatte ihr eine Reise vorgeschlagen. Aber sie brach bei dem Gedanken in Tränen aus. Sie will offenbar nicht von hier weg.“
Dr. Veldtens Gedanken gingen wieder zu Gerhard Hessenbrock. Vielleicht war auch der der Grund von Annelores Weigerung, fortzureisen. Aber er hielt sich nicht befugt, eine solche vage Vermutung dem Geheimrat mitzuteilen. So meinte er denn:
„Wenn Fräulein Annelore hier bleiben will, so halte ich es für richtiger, ihr nachzugeben. Eine Reise können wir uns immer noch aufsparen, wenn wir sehen, dass ihr Zustand sich nicht bessert. Vorläufig möchte ich ein paar Höhensonnebestrahlungen vorschlagen, die ich morgen beginnen will. Dann werden wir weitersehen.“
Der Geheimrat war einverstanden. Und Veldten unterrichtete Annelore von dem, was er beabsichtigte. „Seien Sie bitte heute nachmittag um fünf Uhr bei mir, gnädiges Fräulein“, sagte er, „ich werde Sie vor und nach den Bestrahlungen sehen. Die Behandlung selbst übernimmt meine Assistentin, nämlich meine Frau. Aber vorweg muss ich Ihnen eins sagen. Sie sind nicht krank, Fräulein Werffen. Ihnen fehlt nur der Wille, gesund zu sein. Ohne die Hilfe des Patienten aber kann der Arzt nur sehr wenig tun. Sie müssen helfen. Sie müssen frisch werden wollen. Wir werden schon herausbekommen, woran es liegt, dass Sie nicht wollen. Wenn der Wille zur Gesundheit dauernd fehlt, kann der Mensch krank werden. Das werden Sie Ihrem Vater nicht antun! Wenn also nicht um Ihrer selbst willen, dann wollen Sie um Ihres Vaters willen!“
*
Punkt fünf Uhr trat Annelore in das Wartezimmer Dr. Veldtens. Eine Minute später kam Frau Brigitte in einer grossen weissen Schwesternschürze.
„Fräulein Werffen? Oh, ich kenne Sie schon durch Ihren Vetter, unsern lieben Freund.“
Ihre Augen sahen herzlich in das blasse Mädchengesicht. Und Annelore erwiderte nach scheuem Aufblick diesen Blick strahlend. Im ersten Augenblick fasste sie Vertrauen zu dieser jungen, blühenden Frau mit den warmen, braunen Augen und der klugen Stirn.
„Also kommen Sie, Fräulein Werffen“, sagte Frau Dr. Veldten, „mein Mann hat mich schon über alles orientiert. Bitte machen Sie sich frei und legen Sie sich hier auf das Sofa unter die Lampe. Liegen Sie bequem? Hier, bitte, die Schutzbrille.“
Nachdem Brigitte Veldten Annelore gebettet hatte, schaltete sie die Lampe an und machte sich vorher selbst die Schutzbrille über die Augen. „So, Fräulein Veldten, und nun wollen wir die paar Minuten zu einem recht netten Plausch benutzen. Wir wollen doch nicht wie die Ölgötzen stumm dasitzen. Erzählen Sie mir einmal etwas recht Vergnügtes aus der letzten Zeit. Oder bin ich alte Frau für Sie eine grässliche Respektsperson, mit der man nicht frei vom Herzen weg reden kann?“
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