Einhellige Bestätigung bewies ihm, daß sie in diesem Punkt des guten Benehmens kapitelfest waren. In der Praxis hätten sie ohne Zweifel alle richtig gehandelt, nur die Theorie war ein bißchen verzwickt.
„Sie sehen also, meine Damen, daß wir auf Grund unserer Erziehung das meiste instinktiv richtig machen, aber wir wollen — und das ist der Zweck des Unterrichts — dieses richtige Handeln durch wirkliches Wissen unterbauen. Darum gehen wir einmal zu einem anderen Thema über, zu unseren Tischsitten. Sie sind sich doch klar darüber, daß dies ein Gebiet ist, wo der gewöhnlich Sterbliche schon einmal irren kann?“
„Fisch mit dem Messer aber ißt heutzutage kein Mensch mehr“, warf Baronesse von Freitag ein, „das habe ich sogar bei unseren Gutsleuten beobachtet!“
„Neben den groben Verstößen gibt es aber auch solche, die kaum ins Gewicht fallen, und gerade an ihnen erkennt man den Mann, dessen Erziehung zu wünschen übrig ließ. Nehmen wir einmal an, Herr Tobias Schulze ist zu einer illustren Gesellschaft geladen und er schneidet dort die Kartoffeln mit dem Messer, dann wird man ihm ganz gewiß sehr erstaunte Blicke zuwerfen, würde er sich aber bei seiner Unterhaltung mit der Dame des Hauses zwanglos mit der Gabel hinter dem Ohr kratzen, darf er sicher sein, das nächste Mal nicht wieder eingeladen zu werden.”
„Das geht ja auch etwas zu weit, Herr von Hasley!“ warf Inge Heintzelmann ein. „Vornehme Leute kratzen sich überhaupt nicht, die nehmen Insektenpulver!“
Herr von Hasley stimmte in das Lachen seiner Schülerinnen ein, das die Bemerkung der vorlauten Inge ausgelöst hatte. Dann aber fuhr er fort:
„Über die groben Verstöße brauche ich hier also nicht zu sprechen, über die Feinheiten jedoch wäre wohl noch etwas zu sagen. Stellen Sie sich einmal vor, meine Damen, Ihre Eltern geben Ihnen ein Galadiner zur Verlobung ...“
„Das tun meine bestimmt nicht!“ warf Klothilde von Rausch ein. „Ich heirate nämlich gar nicht!“
Diese Unterbrechung mit einem feinen Lächeln abtuend, fuhr Herr von Hasley fort:
„Sie sollen es sich ja auch nur vorstellen, strategische Fragen und taktische Erwägungen im Kampf der Geschlechter scheiden in unserer Unterhaltung sowieso aus, meine Damen! Ein solches Diner also besteht wahrscheinlich aus acht bis zehn Gängen, und zu jedem dieser Gänge ist ein anderes Besteck erforderlich. Sind Sie sicher, daß Sie sich da unbedingt auskennen werden?“
„Das ist doch kinderleicht, Herr von Hasley!“ erwiderte Baronesse von Freitag. „Man wählt einfach von außen nach innen! Die Bestecke, die neben dem Teller am äußersten Rande liegen, kommen zuerst an die Reihe. Da bedarf es doch keiner besonderen Überlegung!”
„Richtig, Baronesse!“ pflichtete ihr Herr von Hasley bei. „Aber gesetzt den Fall, Sie haben selbst eine solche Tafel herzurichten, wie machen Sie es denn da?“
„Da verlasse ich mich eben auf den Diener, denn der muß so etwas ja gelernt haben!“
„Und wenn der es nun zufällig nicht weiß?” drang der Lehrer weiter in sie.
„Dann gebe ich eben nur ein paar Gänge“, wich sie mit echt weiblicher List aus.
„Das ist allerdings eine Lösung, aber immerhin nur eine Notlösung!“ gab er lachend zu. „Damit soll sich die zukünftige Dame des Hauses aber nicht bescheiden. Nun, darüber wird Sie Frau von Ergste später noch belehren. Ich möchte Ihnen nur noch einen kurzen Rückblick geben auf die Entwicklung unserer Tischsitten, um Ihnen zu beweisen, daß es eine direkte Notwendigkeit war, daß der Freiherr von Knigge geboren werden mußte.“
„Knigge ist aber auch noch nicht vollkommen”, warf Inge Heintzelmann ein. „Die Sitten anderer Völker hat er uns noch nicht nahegebracht. Mein Vater war im vorigen Jahr in China und wurde von seinen Geschäftsfreundden wiederholt zu Tisch gebeten. Was meinen Sie wohl, Herr von Hasley, wie verständnislos die gelben Gentlemen meinen Vater angeschaut hätten, wenn er nach einem guten Essen nicht vernehmlich gerülpst hätte?”
„Es ist ja auch im Land der Mitte das Rülpsen eine schöne Sitte“, deklamierte Klothilde von Rausch mit erhobenem Zeigefinger. „Ich finde das gar nicht tragisch, wenn das Essen wirklich gut war!“
Herr von Hasley sah, daß er diese Unterhaltung nicht weiter einreißen lassen durfte, denn ihr Gespräch drohte seinen für Damen schicklichen Charakter zu verlieren, darum bog er auch sofort ab und kam auf etwas anderes zu sprechen:
„Unser vielgepriesener Knigge hat übrigens vor mehreren hundert Jahren schon einen Vorgänger gehabt. Weiß jemand von Ihnen vielleicht, wer das war?“
„Erasmus von Rotterdam!” antwortete Baronesse Jutta wie aus der Pistole geschossen. „Man nannte ihn auch den Arbiter elegantiarum des Goldenen Jahrhunderts.”
„Sehr richtig, Baronesse! Und dieser Mann hat uns beschrieben, wie man sich benehmen mußte, wenn man in einer vornehmen Gesellschaft nicht unliebsam auffallen wollte. Bekanntlich gab es nur eine gemeinsame Schüssel, die in der Mitte der Tafel stand. Schon damals galt es als unschicklich, mit der ganzen Hand in diese Schüssel hineinzufahren und sich die besten Brocken herauszufischen. Der vornehme Mann nahm dazu nur die ersten drei Finger seiner rechten Hand.“
„Da mußte man aber sicher besonders geschickt sein, denn die anderen fischten doch wohl zur gleichen Zeit, nicht wahr, Herr von Hasley?“ fragte Inge Heintzelmann neugierig.
„Geschicklichkeit gehörte schon dazu”, bestätigte er lachend. „Aber auch damals gab es schon Kavaliere. Hatte jemand ein besonders schönes Stück Fleisch erwischt, so legte er es seiner Dame mit den Fingern auf ihre Brotscheibe, die bei damaligen Gastmählern den Teller ersetzte.“
„Hatten die es gut damals”, warf Beatrix ein und verdrehte genüßlich die Augen. „Wenn sie abgespeist hatten, verzehrten sie ihren Teller als Nachtisch!“
„Sie irren, Komtesse!“ entgegnete Herr von Hasley. „Das mit den herrlichsten Saucen getränkte Brot wurde nach dem Essen an die Armen verteilt.“
„Ein solches Geschenk sollte man heute mal einem Arbeitslosen zumuten!“ sagte Komtesse Thekla von Ophüls.
„Sie sehen also, Komtesse, der Segen des Fortschritts hat alle Lebensgebiete erfaßt”, antwortete Herr von Hasley höflich. „Mit dem Brot durfte man nicht einmal die Schüssel auskratzen, denn darin hätte man eine Mißachtung des Brotes gesehen. Fingerschalen, wie sie heute zum Spargel oder zu gebratenem Huhn gereicht werden, gab es allerdings damals schon. Je feiner der Gast war, desto öfter wusch er sich die Finger.“
„Das wird ja auch wohl dringend notwendig gewesen sein“, warf Inge Heintzelmann ein. „Stellen Sie sich nur vor, die Ärmsten mußten sämtliche Knochen abnagen!“
„Ja, das durften sie, aber es war verpönt, mit dem Knochen auf die Tischkante zu schlagen. Unschicklich war es aber auch, den Löffel abzulecken, bevor man ihn weitergab, oder dem Nachfolger einen ‚schäbigen Rest‘ im gemeinsamen Glase zu lassen.”
„Es war also ein Kreuz, ein feiner Mann zu sein!” stellte Baronesse von Freitag lachend fest.
„Damals genau so wie heute!“ seufzte Klothilde von Rausch. „Was man da alles wissen muß!“
„Und doch sind sich viele Dinge auch gleichgeblieben“, fuhr Herr von Hasley fort, „wenn sie auch heute in keinem Kodex verzeichnet stehen. Es war zum Beispiel ein Zeichen besonderer Vornehmheit, wenn man zu Beginn der Mahlzeit seine Serviette langsam und sorgfältig entfaltete, denn man brachte damit zum Ausdruck, daß man seine Gier nach den bevorstehenden Genüssen zu bezähmen wußte. Ich glaube, meine Damen, diese Zurückhaltung ist auch heute noch ein Zeichen von Takt und guter Erziehung. Und heute wie damals war es verpönt, eine Bemerkung über die aufgetragenen Speisen zu machen, es sei denn, man lobe die Kunst der Hausfrau. Und vom Trinken ist zu berichten, daß es eine zu beherzigende Vorschrift war, beim Ansetzen des Glases die Augen zu schließen, damit der Blick nicht im Raume umherlief und somit ablenkte von einem hohen und konzentrierten Genuß.”
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