„Jedem Fechter muß eine besondere Taktik beigebracht werden. Die kräftigsten müssen angehalten werden, den Gegner zu ermüden, während die schwächeren versuchen müssen, durch besondere Geschicklichkeit zu schnellen Erfolgen zu kommen. Entsprechend muß natürlich auch die Auswahl bei der Mensur sein!“
„Großartig, ich sehe schon, Sie verstehen etwas von Ihrem Fach! Bis Ende Juli müssen wir fit sein, denn da treten wir gegen die Heidelberger Rhenanen an!“
Achim verbeugte sich zustimmend. Er würde jedenfalls alles tun, um seine Kameraden das zu lehren, was er selber konnte. Daß sich die Saxo-Borussen mit dem Gedanken trugen, ihn selber als Renommierfechter herauszustellen, der jeweils gegen den stärksten Fechter anderer Verbindungen anzutreten hatte, sagte ihm Graf von der Holst an diesem Abend allerdings nicht.
Bei den nun folgenden Paarungen war Achim Hollmann ein aufmerksamer Zuschauer, der nicht mit Ratschlägen sparte, wenn es darum ging, eine Steigerung der Leistung zu erzielen. Und da sie sahen, daß er wirklich etwas vom Fechten verstand, fügten sich ihm die Kameraden gern.
Zum Schluß forderte ihn der zweite Chargierte Bodo Herwarth zu einer Partie auf, um ihm Gelegenheit zu geben, sein Können zu demonstrieren. Herwarth wählte aber statt des Rapiers das Florett, weil er wußte, daß sich Achim Hollmann im Florettfechten schon eine Meisterschaft geholt hatte. Es war eine sehr schöne kameradschaftliche Geste, die Achim wohl zu würdigen verstand.
Die Partie erregte helle Bewunderung, und oft gab es lauten Beifall und heftiges Trampeln, denn Bodo Herwarth war ein durchaus gleichwertiger Partner, der seinem Gegner schwer zu schaffen machte. Er war zwar nicht so groß und kräftig wie Achim, aber er war ein drahtiger Sportsmann mit einem durchtrainierten Körper. Und gerade seine geschmeidige Gewandtheit kam ihm besonders zugute, denn beim Florett geht es nicht um ein besonders gutes Stehvermögen, sondern um die Geschicklichkeit im Angriff und Ausfall.
Inzwischen war es zehn Uhr geworden. Da brach Graf von der Holst das Pauken ab, und mit Hilfe des Pedellen wurde der Raum in kürzester Zeit wieder in die ursprüngliche Kneipe verwandelt. Die Burschen nahmen, unter Aufsicht des Präsiden, an der oberen Tafel Platz, die Füchse saßen, der Fuchtel ihres Fuchsmajors übergeben, am unteren Teil. Für diese eine Kneipe war Achim Hollmann der Ehrenplatz neben dem Präsiden eingeräumt worden, galt es doch heute, ihn feierlich als neuen Korpsbruder in die Saxo-Borussia aufzunehmen.
*
Komtesse Beatrix hatte sich in den wenigen Wochen ihres bisherigen Verweilens im ‚Haus Friederike‘ schon recht gut eingelebt, und es machte ihr auch besondere Freude, an den Unterrichtsstunden teilzunehmen, die im Pensionat obligatorisch waren, um den jungen Mädchen den letzten gesellschaftlichen Schliff zu geben. Zu diesen Stunden gehörte auch ein sogenannter Anstandsunterricht, der, soweit er die typisch weiblichen Belange betraf, von Frau von Ergste selbst erteilt wurde, die allgemeinen Begriffe aber lehrte ein Herr von Hasley, der die einzige männliche Lehrkraft des Pensionats darstellte.
Ulrich von Hasley war ein Mann Mitte der Vierzig, er war groß und stattlich, und sein markantes, männlich-schönes Gesicht hob ihn weit über den Durchschnitt seiner Altersgenossen hinaus. Kein Wunder, daß die Schülerinnen alle für ihn schwärmten.
Auch Beatrix fand ihn ausnehmend sympathisch, aber nicht deshalb, weil er den Typ verkörperte, für den sie schwärmte, sondern weil er ihr Vertrauen einflößte. Es ging etwas Beruhigendes und Selbstsicheres von ihm aus, das ihm die Herzen der jungen Mädchen zufliegen ließ und das sie mehr als einmal veranlaßte, ihm ihr Vertrauen zu schenken und ihn in den delikatesten Herzensangelegenheiten um seinen Rat zu bitten. Ulrich von Hasley hatte nicht nur graue Schläfen, sondern er hatte auch gute, seelenvolle Augen.
Er wußte aber auch mit den jungen Damen umzugehen! Niemals ließ er sich anmerken, daß es ihm bewußt war, wie sie ihn umschwärmten, keine Regung von Eitelkeit war ihm anzusehen, und niemals stellte er seine Männlichkeit heraus. Er gab sich ganz als guter Kamerad und das mit einer Selbstverständlichkeit, die als solche kritiklos hingenommen wurde. So war er der gute Geist des Pensionats und mehr noch als die eigentliche Leiterin des ‚Hauses Friederike‘ der Mittelpunkt einer kleinen Gemeinschaft, die seine Autorität anerkannte und ihn vergötterte.
Und diesem Ulrich von Hasley oblag es nun, in den jungen Mädchen den Sinn für gesellschaftliche Formen zu vertiefen und ihnen jene Sicherheit zu geben, die die Dame der Gesellschaft auszeichnet. Es mag einleuchten, daß es bei solcher Aufgabe nicht damit getan war, sich auf das Studium des Lebenswerkes eines Freiherrn von Knigge zu beschränken und dessen Regeln für ein gutes Benehmen auswendig zu lernen.
Seine Lehrstunden waren nicht einmal Unterricht im Sinn dieses Wortes, er vermittelte sein Wissen in zwangloser Unterhaltung, und keine seiner Schülerinnen, die ja immerhin schon junge Damen waren, hatte das Empfinden, belehrt oder gar bevormundet zu werden.
So saßen sie auch heute wieder zwanglos in der großen Veranda, Herr von Hasley mitten unter ihnen, und er sagte:
„Meine Damen! Sie sollen mir jetzt einmal einen Vorschlag machen. Und zwar sagen Sie mir bitte, was ich tun soll, wenn ich mit einer Dame die Treppe hinaufgehe und diese verliert unterwegs ihr Taschentuch. Nun, was meinen Sie wohl dazu?“
„Einfach liegen lassen“, schlug Klothilde von Rausch vor, „es wäre ja möglich, daß die Dame einen Schnupfen hat.“
„Der Ritterdienst verlangt aber von mir, der Dame zu helfen, selbst wenn ein Risiko damit verbunden ist. Ich darf mich also nicht darumdrücken, weil ich fürchte, nun selbst einen Schnupfen zu bekommen. Einen anderen Vorschlag bitte! Nun, Fräulein Heintzelmann?“
„Einfach ignorieren!“
„Frauendienst duldet kein Ignorieren, so würde nur ein ausgemachter Flegel ohne jede Erziehung handeln! Ihr Vorschlag kommt also auf dasselbe heraus wie der von Fräulein von Rausch. Nein, meine Damen, so geht das nicht. Also bitte, wie soll ich mich nun verhalten, ohne gegen den guten Ton zu verstoßen?“
„Sie heben das Taschentuch auf und überreichen es der Dame mit einer Verbeugung, sobald Sie oben auf der Treppe angekommen sind“, schlug Jutta von Freitag vor.
„Nein, Baronesse, auch das werde ich nicht tun!“ antwortete er unerbittlich.
„Dann heben Sie es auf, stecken es in die Tasche und geben es der Dame zurück, wenn Sie es zu Hause gewaschen haben!“ meinte Komtesse Beatrix.
„Das geht leider nicht, Komtesse, denn ich kenne die Dame überhaupt nicht! Ich sehe schon, meine Damen, die Frage ist viel schwieriger, als Sie sich das vorgestellt haben. Und doch ist die Lösung so einfach. Vergegenwärtigen Sie sich doch einmal die Situation! Die beiden steigen zusammen die Treppe hinauf, in unserem Falle also die unbekannte Dame und ich. Wie geschieht das und wie verhalte ich mich da?”
„Sie werden es wahrscheinlich gar nicht bemerken, wenn die Dame ihr Taschentuch verliert“, antwortete Komtesse Beatrix.
„Und warum nicht, Komtesse? Ich habe doch gute Augen und bin auch sonst nicht gerade unaufmerksam jungen und älteren Damen gegenüber. Oder könnte mir eine von Ihnen diesen Vorwurf machen?“
Lachend bestätigten sie ihm, daß er der wiedererstandene Knigge sei, Komtesse Beatrix aber ergänzte:
„Sie können es aber nicht bemerken, Herr von Hasley, weil Sie ja vor der Dame die Treppe hinaufgehen würden.“
„Bravo, Komtesse! Das ist also der springende Punkt: der Kavalier hat zwar überall seiner Dame den Vortritt zu lassen, nur nicht auf der Treppe. Dort geht er entweder neben der Dame oder, wenn die Treppe zu schmal ist, vor ihr die Stufen hinauf! Das haben Sie doch alle gewußt, nicht wahr, meine Damen?“
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