Ein Mannsbild Leben eines Landarztes
Im dritten Kriegsjahr erhielt der Stabsarzt der Reserve Dr. Wetzel einen unerwarteten Urlaub von 8 Tagen, weil der Generaloberarzt zufällig guter Laune war. Wetzel beschloß, seine Frau zu überraschen, kam abends gegen 8 Uhr in Halle an und nahm eine Droschke, um gemütlich zu seinem Häuschen hinauszufahren, das zwischen Halle und Ammendorf am Bahndamm lag. Es war ein kalter Aprilabend, windig und ziemlich trübe. Es regnete auch etwas.
Während der letzten fünf Minuten wurde Wetzel unruhig. Er besah seufzend das Innere seiner Militärmütze, wischte die Stirn, zerrte an seinem Waffenrock und vergewisserte sich dreimal, ob Wein, Butter, Honig und Wurst noch in der Tasche waren.
Als er ausstieg, fiel ihm auf, daß nur in der Küche Licht brannte und oben im Schlafzimmer, Ankleideraum und Badezimmer. Ihm schien es auch, als wenn das Dienstmädchen nur verlegene Freude zeigte. Er stieg in Mantel und Mütze vorsichtig die Treppe hinauf und öffnete lautlos die Tür zum Badezimmer. Was er sah, schien ihm zuerst eine Halluzination zu sein, Vorausspiegelung dessen, worauf er sich während der ganzen Eisenbahnfahrt gefreut hatte. Ein Mann stand nämlich in der Badewanne und seifte sich unter behaglichem Grunzen gründlich ab. Wetzel vergewisserte sich, daß er draußen im Flur stand und nicht jener fremde Herr sein konnte. Richtig, es hing ja eine Leutnantsuniform am Haken und nicht der Stabsarztrock. Er schlug sich vor die Stirn, drehte um, lief die Treppe wieder hinunter, befahl dem Dienstmädchen, der gnädigen Frau nichts zu sagen, ehe er angerufen hätte, und stand zwei Minuten nachdem er ins Haus gekommen war, wieder draußen.
Wetzel ordnete seine Angelegenheiten vom Hotel aus. Ein junger, sonst unbeschäftigter Anwalt mußte gleich am andern Morgen die Scheidungsklage aufsetzen. Der Nachmittag war der Auseinandersetzung mit Vera Wetzel gewidmet. Sie erschien in einem kückengelben Frühjahrskostüm mit hellblauem Hut, war verweint, unsicher, voll Selbstanklage. Sie wollte seine Verzeihung erbitten oder sein Verständnis, wollte sich, wenn er es verlangte, scheiden lassen und seine Freundin bleiben. Sie hatte sich von 9 Uhr abends bis nachmittags um vier tausend Möglichkeiten ausdenken können. Aber Wetzel versteifte sich darauf, gekränkt und betrogen zu sein.
„Nein, wie konntest du? ...“ rief er erregt, oder: „Wer ist denn dieser junge Mann? So? Keller heißt er? Kenn’ ich nicht!“ Oder: „Während ich jede Stunde sterben kann ...“ und anderen unnützen Kram. Auf diese Weise gab es natürlich keine Verständigung. Sie gerieten schließlich in Vorwürfe von gestern und vorgestern. „Welche Interessen verbinden uns?“ sagte er zum Beispiel. „Hättest du auch einen Blick für Gesunde gehabt!“ antwortete sie. Sie untersuchten sorgfältig, ob sie sich jemals geliebt hätten, und verneinten es. Vera betonte, daß Wetzel nicht gerade der Schönste sei mit seinen Sommersprossen, dem kurzgeschorenen Rundschädel und den leicht gebogenen Beinen. Wetzel hingegen hatte ihre Tränenlosigkeit beim letzten Abschied zu bemängeln (dabei war sie eiskalt verzweifelt gewesen), ihre unbändige und unruhige Genußsucht und ihren Hang zum Luxus, der in der Tat ein wenig über ihre materiellen Möglichkeiten hinausging.
Kurzum: kaum hatte man sich voneinander entfernt, so war man getrennt. Der eine Schmerz zog hundert alte und neue Schmerzen hinter sich her, in der einen Enttäuschung waren hundert andere enthalten. Als Vera um neun Uhr die Treppe hinunterstieg, war von ihrer Ehe nichts mehr übrig. Keine Wärme, keine Erinnerung, kein Lächeln. Hatte sie nicht seine Hände geliebt, seine ungestüme Tapsigkeit, die Schärfe seines Verstandes und die Hilflosigkeit seiner tapferen kleinen Seele? Sie wußte es nicht. Sie sah nur seine alberne Verbeugung am Schluß, die verkniffenen Lippen und die großen, roten Flügelohren.
Wetzel hatte es ein wenig besser. Denn wenn er auch in seinem Trotz nichts hörte und sah, so roch er doch die sanfte Wolke von Veras Parfüm. Es war noch dasselbe, von dem er ihr im letzten Augenblick vor der Trauung eine halbe Flasche in den Schleier gegossen hatte, so daß sie, wie ein Treibhaus duftend, zum Altar gehen mußte.
Daran konnte er denken. Ein wenig weinen und lachen, und als am anderen Tag der Duft verschwunden war, hatte er sich bereits an den Gedanken gewöhnt, daß er sein Leben nur noch auf sich stellen konnte, falls er überhaupt leben würde.
Bald nach diesem Urlaub wurde Wetzel als Bataillonsarzt an die Front versetzt. Die Kämpfe am Chemin des Dames und um Laon überstand er gut. Im Oktober 1918 geriet er beim großen Rückzug mit seinem Verbandplatz in Gefangenschaft, hatte einen empörenden Transport durch Frankreich zu erdulden und kam infolge von allerlei unglücklichen Umständen erst im August 1919 wieder nach Deutschland zurück, obwohl er als Arzt sofort hätte ausgetauscht werden müssen. Durch die zehn Monate der Gefangenschaft war er in einen Zustand tiefer Entmutigung geraten. Er kam sich überflüssig vor, entwurzelt. Er gab seinem Stolz einen Stoß und fuhr zu Vera hinaus. Aber das Haus war verkauft, Vera zu ihren Eltern nach Holland zurückgekehrt. Der neue Besitzer führte ihn durch die Räume, deren vertraute Wände durch fremde Möbel entstellt waren. Nicht einmal die Aussicht aus dem Schlafzimmer war geblieben. Rechts und links standen neue Stadthäuser aufgebaut. Schrebergärten drängten sich an den Zaun des Hauses, und nur wenn man starr geradeaus sah, hatte man die alte ungezäunte Felderweite vor sich.
Nichts war geblieben. Wetzel besuchte seine Eltern in Hamburg. Der Vater, Archäologe von Beruf, war weiß und verbittert, als seien seine Ausgrabungen durch die Revolution ein zweites Mal verschüttet. Die Mutter erzählte Geschichten aus ihrer Kindheit, die golden neben der finsteren Gegenwart glänzte, und die Schwester lebte an der Seite eines Verdieners ein langweiliges Sportleben. Er blieb, er sprach von sich, erzählte, die anderen erzählten von sich. Keiner hörte zu, keiner wollte vom anderen wissen. Nichts, nichts!
Wetzel vergrub sich ein Jahr lang in die Arbeit. Noch ein Jahr. Ein drittes. Er machte eine ausgezeichnete Arbeit über Pankreaserkrankungen. Habilitierte sich. Wie ging das nur zu? Er schlief langsam ein. Aber die Schmerzen ließen nicht nach. Die Langweile nicht. Er verzehrte sich und wurde dicker. Er umpanzerte sich und war empfindlich gegen jede Trübung seines Schicksals. Er hielt sich eigentlich von Frauen fern — was sollte ihm das alles nach Vera? —, aber von den kleinen Mädchen, den Studentinnen, Laborantinnen, nahm er jede, die sich ihm bot. Er hatte also Erfolg bei Frauen und in seinem Beruf. Aber was nützte das?
Wenn er nun Professor wurde? Sind ordentliche Professoren glücklich? Hingegen, wenn er sich das zerstörte? Ja, dann hatte er noch eine Enttäuschung, die er anklagen konnte, um sich nicht anzuklagen. Ging er deshalb aufs Land? Natürlich, im Grunde aus Feigheit und Selbstzerstörungslust. Man sieht, das Leben läuft, wenn es läuft, immer auf den gleichen Schienen. Eines Tages also kaufte Wetzel die Praxis eines alten Landarztes in dem Dorfe P., zwischen Merseburg und dem Thüringer Wald.
Das Haus, das Wetzel gleich hatte mitkaufen müssen, lag an einem Dorfende. Es war im Stil der Tiroler Holzhäuser gebaut. Ein breites Schindeldach hing über den Balkon, der rings um die erste Etage führte und einen Rundlauf gestattete. Unten, verdunkelt vom Balkon und den Stämmen der Riesenlinden, lagen Sprech- und Wartezimmer, die Küche und das Zimmer für die Haushälterin. Bei guter Sicht sah man aus den Westfenstern die Bohrtürme der Kohlengruben, die Dämpfe, Schornsteine und Lichter der Leunawerke, während im Osten der Thüringer Wald sanftwellig, blau anhob. Bei schlechter Sicht war nichts als die Ebene zu sehen, Feld an Feld, unterbrochen nur durch die Landstraßen mit den Obstbäumen. Wald gab es nicht.
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