Walter von Hollander
Roman
Saga
Walther von Hollander: Oktober. © 1937 Walther von Hollander. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711474662
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Der Oktober begann für Berlin höchst ungewöhnlich mit einem Sommertag. Noch am Nachmittag um fünf war es heiß wie im Juli. Die Farben allerdings waren herbstlich hell und kräftig. Denn die Bäume in den Vorgärten und in der Mitte des Kurfürstendamms hatten durch die Trockenheit des Sommers zumeist ihre Blätter verloren, und die wenigen, die noch belaubt waren, verstärkten hellgelb und rot das Sonnenlicht. Tief und dunkel schnitten die langen Schatten der Häuser in die gelben Sonnenbänder zu beiden Seiten der Straße.
Zylvercamp, der Maler, bog von der Uhlandstraße in den Kurfürstendamm ein. Er blieb einen Augenblick stehen und zog nach seiner Gewohnheit die Unterlippe ein wenig vor, als müsse er die heiße, helle Luft schlürfen oder die Schatten, die gerade neben ihm das Pflaster überwucherten.
Das bunte Bild — zu den hellen Herbstfarben kamen hier der waschblaue Gegenlichthimmel im Osten, die Frauen in bunten Herbstkleidern und die Schaufenster, in denen Modefiguren die Passanten anlächelten — dies bunte Bild gefiel ihm, als ob er es selbst gemalt hätte.
Es erinnerte ihn an ein Bild, das drei Jahre zuvor entstanden war: eine Großstadtstraße mit grellbunten Menschen drin. Das sah aus wie ein Blumengarten. Oder ganz von fern wie ein Park nach dem Sturm. Es hing jetzt im Kronprinzenpalais. Man mußte mal hingehen und es sich ansehen. Denn wahrscheinlich waren die scharfen Schatten nicht drin, die grellen und unheimlichen Schatten, von denen aus dies Bild hier erst eigentlich leuchtete. Das Tragisch-Oktoberliche war nicht drin, die helle Sonnenheiterkeit neben den Streifen und Schatten des Frostes. Das Aufbrennen im letzten Augenblick. Richtig sehen lernte man eben erst im Älterwerden. In die Ferne hinein, das Kommende gleichzeitig mit dem Gegenwärtigen, das Hintergründige gleich neben dem, das sich immer in den Vordergrund drängte und den Nichtskönnern sich allein darbot.
Zylvercamp starrte ein paar Minuten bewegungslos das Bild an. Er holte es Farbe für Farbe in sich hinein und übersetzte es Fleck für Fleck ins Zylvercampsche. Dann hob er grüßend eine Hand. Jemand hatte seinen Namen gerufen. Drüben auf der anderen Seite der Uhlandstraße, im Kaffeegarten, saß Christian Baudis, der Schauspieler, mit dem er verabredet war, und winkte ungeduldig. Jetzt war Baudis sogar aufgestanden, lehnte groß, breit, in einem hellen, seidenen Sommeranzug, an der Balustrade und rief. Zylvercamp, dem alles auffällige Benehmen ein Greuel war, eine „Belästigung anderer Menschen mit persönlichen Eigenheiten“, zögerte ein paar Sekunden, und jetzt verwehrte das rote Sperrlicht den Übergang.
In diesem Augenblick kam von der anderen Seite her, von der Untergrundbahn also, und zwar so, daß Baudis sie nicht sehen konnte, Maria von Nemesch über die Straße. Sie ging langsam und so achtlos, als überschritte sie irgendeinen Waldweg, die hellen Augen auf Baudis gerichtet. Nun war sie drüben gelandet und blieb so hinter dem Schauspieler stehen, daß er sie nicht sehen konnte. Sie betrachtete ihn aufmerksam und etwas in der Art von Zylvercamp, grübelnd, einheimsend, also gar nicht wie die anderen Damen auf der Straße den berühmten Schauspieler angafften, neugierig oder stolz, als hätte sie ein Widerschein der Filmleinwand getroffen.
Jetzt hatte das Straßenlicht wieder gewechselt, und nun kam Zylvercamp ins Bild. Er grüßte lächelnd den Schauspieler. Maria von Nemesch zuckte zusammen, drehte sich blitzschnell um und lief durch den eilig dahinflutenden Strom der Autos auf die Insel der U-Bahn zurück.
Zylvercamp wurde erst durch ihre Flucht auf sie aufmerksam. Er hatte sie vorher gar nicht gesehen. Aber nun ließ er den Schauspieler einfach stehen und lief hinter Maria von Nemesch her. Ziemlich dicht hintereinander verschwanden die beiden im Untergrundbahnschacht, über den gleichzeitig der Schatten eines Hauses fiel.
Christian Baudis, der Schauspieler, sah ihnen verdutzt und etwas ärgerlich nach. Er war es nicht gewöhnt, daß man ihn sitzen ließ.
Dann aber beugte er sich lachend zu seiner Begleiterin, einer achtzehnjährigen Blondine (sie war zur Zeit seine fünfte Frau und eine Hoffnung des deutschen Films), und sagte: „Hast du gesehen? Lief hinter der jungen Dame her wie ein Primaner. Meine Generation! Nicht totzukriegen!“ Die junge Dame aber hatte ihren Spiegel gezogen, fletschte ein wenig die Zähne, zog sich die Lippen nach und näselte: „So? Wird dein Freund Zylvercamp auch sechzig Jahre?“
„Ich bin fünfundfünfzig“, sagte Baudis scharf, „und Zylvercamp wird nicht älter sein.“
Die junge Frau Baudis antwortete nicht. Sie fand, daß es in diesem Alter auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht mehr ankam.
Zylvercamp erwischte gerade noch den letzten Wagen des abfahrenden Untergrundbahnzuges. Maria von Nemesch war nicht drin. Er stand und starrte die vorbeifliegenden grauen Wände an, die Lichter, die vorbeizuckten, die Pfeiler, die auf- und abtanzten. Er war tief erschrocken. Einmal, weil Maria von Nemesch ihm ihre Rückkunft verschwiegen hatte, weil sie mit jenem Abschiedsbrief vom Juli Ernst machte, weil sie ihm ausgewichen war und nun sogar vor ihm davonlief.
Dann aber — und das war schlimmer — weil er ihr besinnungslos nachgelaufen war, gezogen von der gleichen unwiderstehlichen Kraft. Besinnungslos und gegen jeden Verstand. Es war doch gut, daß sie ihm auswich. Es war doch richtig, daß sie nicht mehr zu ihm kam. Es war doch tapfer und feinfühlig, daß sie ihn glauben ließ, sie sei noch immer in Wiesenberg.
„Ich fahre zu den Großeltern“, hatte sie beim Abschied gesagt, und er hatte geantwortet: „Das klingt feierlich und traurig wie bei einem Begräbnis.“ Und sie: „Das soll auch so klingen.“
Der Zug hielt am Wittenbergplatz. Zylvercamp sah Maria aussteigen und die Treppe langsam hinaufgehen. Er lief hinterdrein. Er freute sich wieder an ihrem Gang, wie sie „von selbst“ die Stufen hinaufschwebte. Er hatte ihr einmal versprochen, er wolle sie als Engel malen, in einem grauen Sportkostüm mit einer rosa Flügelbluse eine Treppe hinaufschwebend, die Treppe natürlich zu seinem Atelier. Fast ohne Flügel sollte sie schweben. Denn das traumhafte Fliegen kam aus der Vollkommenheit des Treppensteigens.
Er stampfte jetzt eilig die Stufen hinauf. Breit durch die Menge pflügend, kam er an ihre Seite.
„Fräulein von Nemesch“, sagte er etwas vorwurfsvoll. „Maria ...“
Maria blieb stehen. Sie reichte ihm wortlos die Hand. „Warum haben Sie sich nicht zurückgemeldet?“ fragte Zylvercamp.
Maria antwortete nicht.
„Warum laufen Sie vor mir weg, was ist das für eine Sache?“
Sie antwortete nicht.
„Und was ist das mit Baudis? Was wollten Sie von ihm?“
Endlich sprach Maria. „Baudis?“ fragte sie. „Es war also doch Baudis?“
Zylvercamp antwortete: „Ja, kannten Sie ihn denn nicht? Und wenn Sie ihn nicht kannten, dann mußten Sie ihn doch erkennen. Jeder Mensch kennt Baudis.“
„Ich kannte ihn nicht“, sagte Maria, als spräche sie nur zu sich. „Aber jetzt weiß ich, er ist es gewesen.“
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