Walther von Hollander
Roman
Saga
Der Granatapfelbaum
© 1961 Walther von Hollander
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711474556
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
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Wieder unter schwarzen Wimpern
Mit betörenden Augen
Schaut mich Eros an.
Ibykus, griechischer Lyriker, 6. Jahrhundert vor Christo.
Tän toon toiutoon pathematon katharsin
την των τοιουτων παδηματων χαϑαρζιν
„Die Reinigung von derlei Leidenschaft.“
Aristoteles über den Begriff des Tragischen.
Persephone steigt aus dem Hades herauf
»Da – gleich am Teich rechts«, sagte der Rentner mit der blauen Schirmmütze und zeigte auf das alte Fachwerkhaus. »Sie gehören wohl auch zu denen?« – «Ja, ich gehöre auch zu denen«, antwortete Christine vergnügt. Der kleine, tomatenfarbene Wagen schoß auf Hennekes Gasthof zu und hielt am Hoftor.
Die mächtigen, eichenen Torflügel standen offen. Eine schwarze Blechhand wies mit ausgestrecktem Zeigefinger in den schattendunklen Hof. »Ausspann«, stand darunter. Christine zögerte. Die Märzsonne schien so angenehm durch das offene Wagenfenster. Der Dorfteich, noch milchig-weiß zugefroren, blendete hell herauf. Aber erst mal hinein in die Schatten, in den Hades! Vorsichtig fuhr sie über das Kopfsteinpflaster und parkte zwischen einem großen, weißen Wagen aus Glas und Chrom und einem olivgrünen Autobus. Drei ältere Schauspieler, wahrscheinlich die drei Totenrichter, lagen in den zurückgelehnten Sitzen und schliefen. Ein gelber Kater überquerte, auf der Suche nach Sonne und Mäusen, den Hof. Er lief die kleine Außentreppe hinauf, schlüpfte durch eine angelehnte Tür. Christine folgte ihm, trat ein.
Der große Wirtshaussal war dunkel. Zwei rotglühende Eisenöfen flankierten die kleine Bühne, die von vier heruntergezogenen Lampen kalkig beleuchtet war. Und auf der Bühne ... da stand er also: Henri Wyndthausen, der Triptolemos, der irdische Mann Persephones, ihr Partner, vor dem ihr Mann, ihre Mutter, ihr Agent sie gewarnt hatten.
Sie hob ihr schildpattgefaßtes Lorgnon an die etwas kurzsichtigen Augen. Sie kannte ihn aus drei oder vier ziemlich mäßigen Filmen. Sie hatte viele Bilder von ihm gesehen. Aber der da oben war ... nun er war »ganz anders«. Ein knabenhafter Mann, ein männlicher Jüngling, überschlank, verhältnismäßig klein, mit einem breiten Schädel, bräunlich-goldenen Haaren und erstaunlich dunklen, kohlschwarzen Augen. Wyndthausen trug verknüllte, flaschengrüne Cordhosen, einen gelben Pullover, ein chinesisch getuschtes Seidentuch. Er hatte die Arme um zwei ruschelhaarige Schauspielerinnen gelegt. Mit der einen flüsterte er. Sie lachte albern, schlüpfte aus seinem Arm und lief in die Kulissen. Wyndthausen schickte die andere mit einem Klaps auf die prall sitzende Nietenhose hinterdrein. »Also der Monolog«, rief er. Einen Augenblick stand er bewegungslos, stampfte ungeduldig auf und schrie: »So geht’s bestimmt nicht. Ständig krabbelt da jemand im Dunkeln rum. Kannst du deine paar Mannen nicht raussetzen?« – »Mach’s nicht so spannend«, rief der Regisseur ungeduldig.
Wyndthausen stand in übertriebener Versunkenheit (fand Christine), die Augen geschlossen, eine Hand auf die Hüfte gestemmt. Dann machte er überraschend eine heftige Drehung. Er schleuderte die Arme von sich, als müsse er einen freien Raum um sich schaffen. Jetzt verstand Christine: das war die Einleitung zum Monolog des Triptolemos. In der wildschwingenden Drehung wurde die kommende Szene vorbereitet, der Schrei nach der in die Unterwelt verschleppten Persephone, der Ruf in die echolosen, rauchschwarzen Kessel der Vulkane, die den Eingang zum Hades bilden. Er beugte sich, die Hände trichterförmig an den Mund gelegt, über den Abgrund. Seine Stimme färbte sich (wie Rauchtopas, dachte Christine), wurde dunkler, als er ihren Namen schrie, heisehend, bittend, flehend immer wieder: »Persephone! Perphone!«
Mitten in der ungeduldigen, ungehemmten Raserei der Rufe brach er ab. Triptolemos, der irdische Gemahl Persephones, der vom Feuer gehärtete, von Nektar und Ambrosia ernährte, verwandelte sich in den Schauspieler Wyndthausen zurück, den berühmten, groben Mimen. Er knipste, von der Kulisse aus, das Licht im Zuschauerraum an. Er sagte wütend und leise: »In diesem Laden scheint’s nicht möglich zu sein, ungestört zu probieren. Wer hockt da noch herum? Was wollen Sie denn hier?« Arno Petersen, der dicke Regisseur, hatte gerade Christine entdeckt. Er lief, die Hände zum Willkomm ausgebreitet, auf sie zu. Er begrüßte sie pathetisch, überschüttete sie mit nichtigen Fragen, billigen Lobsprüchen, gutgemeinten Redensarten. Er hakte sie unter, lief mit ihr die Treppe zur Bühne hinauf und stellte sie vor Wyndthausen hin. »Das ist sie«, rief er mit seinem sächsisch angefärbten Orgelbaß. (Er röhrte, wenn er aufgeregt war, wie ein Elefant und wurde deshalb Mumbo genannt.)
Wyndthausen reichte ihr die Hand. Er sah die Partnerin mit schiefem Kopf an. Die Prüfung schien »einigermaßen« auszufallen. Er nickte, griff nach ihrer linken Hand, drehte die Handfläche nach oben und studierte aufmerksam die Handlinien. Man hatte Christine genug von den Kapriolen Wyndthausens erzählt. Sie war also nicht überrascht. Die seltsame Begrüßung gefiel ihr sogar. Wie er hin- und herschauend ihr Gesicht, ihre Augen und ihre Handlinien verglich, das fand sie gleichzeitig kurios und anmutig, gleichzeitig frech und scharmant. Er war nur ein wenig größer als sie. Deshalb begegneten sich die Augenpaare, die klematisblauen, leuchtenden Augen Christines und die dunklen, funkelnden Henri Wyndthausens. Christine dachte an ihren Schuldirektor, bei dem sie das Abitur »gebaut« hatte. Sie erinnerte sich, daß er ihr kurz vor der Prüfung riet, den gefürchteten Schulrat Menneke möglichst freundlich anzulächeln. »Durch ein Lächeln kann man nicht hindurchschauen«, hatte der Direktor gesagt. Es war sicher gut, wenn der »seltsame Knabe« Henri Wyndthausen sie nicht durchschauen konnte. Sie lächelte also und sagte freundlich: »Na ... stimmt’s?« Wyndthausen ließ ihre Hände fallen. Er murrte: »Genaueres ein andermal«, und zu Petersen, dem Regisseur, recht von oben herab: »Die Stimme stimmt. Du hast nicht zuviel versprochen, Arno.«
Es war Abend. Aus der Ecke der Gaststube dampfte es wie aus einem Vulkan der Unterwelt. Die drei Totenrichter saßen dort. Der massige Kumminghaus, der dürre, langnasige Gernke und der ehemalige Bösewicht, Jan Schröder, dessen Bösigkeit längst in die Fettfalten seines Gesichts eingeschmolzen war. Deshalb mußte er, der noch vor wenigen Jahren die Hauptverbrecher in Kriminalfilmen gespielt hatte, jetzt eine drittklassige, eine Fünfzigworte-Rolle, eine Dreißig-Mark-Rolle spielen. Deshalb schielte er, der sonst beim Skat nicht links, nicht rechts schaute, immer wieder auf den Prominententisch, an dem die Götter und Helden, die Herren und Damen der Oberwelt sich versammelt hatten. »Die kommen noch alle zu uns runter«, räsonierte er, »in die Unterwelt mit Zigarre, hellem Bier und Kartenfreuden.« Er hieb dabei den Pik-Buben auf den Tisch und sammelte durch ihn die noch fehlenden »Augen«.
Am Prominententisch saß Christine mit Mumbo Petersen, dem Regisseur, mit Ellen Heß, seiner kornblonden Frau, der Demeter, mit Bossard, dem schwarzbärtigen Pluto. Neben Pluto Olga Berliner, eine rundliche Fünfzigjährige, die »Dame aus der Unterwelt«, die Souffleuse, die bald zu den Skatspielern hinüberzog.
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