Walther von Hollander - Es wächst schon Gras darüber

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1945 – die Stunde null. Der Architekt Paul Wolffenau hat eben noch an der Front gestanden, ist knapp der Kriegsgefangenschaft entronnen und kehrt nun in die Heimat zurück. Doch sein Haus in Berlin ist zerstört und seine Frau liegt tot unter den Trümmern. Wie in einem solchen Moment, wo ein gesamtes Leben, eine gesamte Welt zerstört ist, ein neues Leben beginnen? In einer notdürftig hergerichteten Waldhütte fängt Wolffenau in mehrfacher Hinsicht an, es sich neu einzurichten. Dann lernt er die junge Frau Maria kennen, schenkt ihr das Kleid seiner toten Frau und beginnt, durch ihr Vorbild gestärkt, ins Leben zurückzukehren. Doch auch Marias Mann findet die einsame und plötzlich sehr lebendige Waldhütte … Ein spannendes, aussagekräftiges Stück Trümmerliteratur und literarisch kunstvoll verarbeitete Zeitgeschichte, das es unbedingt wiederzuentdecken gilt.-

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Walther von Hollander

Es wächst schon Gras darüber

Roman

Saga

Es wächst schon Gras darüber

© 1947 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474570

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

Gras

Türmt eure Toten zuhauf in Austerlitz und Waterloo,

Türmt sie zuhauf in Ypern, Verdun,

Schaufelt ihnen das Grab und laßt mich nur schaffen.

Zwei Jahre, zehn Jahre; und Reisende fragen den Schaffner:

Was geschah hier? —

Wo befinden wir uns? —

Ich bin das Gras, das alles bedeckt.

Laßt mich nur schaffen.

Carl August Sandburg

Langsam begann es zu regnen. Aber es blieb warm. Die Wolken krochen dicht über die Ruinen, die den Bahnhofsplatz säumten, und es wurde sehr dunkel. Die zwei- oder drei- oder viertausend Flüchtlinge, die auf Säcken, Kisten, Koffern oder auf den wenigen rohgezimmerten Bänken des Platzes gehockt hatten, nahmen ihr Gepäck auf und schoben sich stumpf durch die Eingänge in die Bahnhofshalle hinein. Da aber diese Halle nur mit einem Gerippe aus verbogenen Eisenträgern überdacht war, regnete es auch hier hinein, und so sickerte der zähe, lehmgraue Fluß der Flüchtlinge und Vertriebenen tiefer in den Bahnhof, um in den spärlich erleuchteten Gewölben unter den Bahnsteigen Schutz vor der Nässe zu suchen.

Eine halbe Stunde lang schleppten sie, zankten sich um die besseren, zugfreien Plätze, schoben ihre Kisten und Säcke, ihre Koffer und Packen zurecht. Dann saßen sie wieder stumpfsinnig oder ergeben. Die Männer stocherten in ihren Pfeifen, suchten Tabakreste aus den Taschen ihrer verschmutzten Jacken. Ein paar Frauen schwatzten eintönig. Einige kauten trübe an Brotkanten, und nur ein paar Kinder spielten unermüdlich zwischen den graugrünen Hügeln des Gepäcks Verstecken. Ihre kreischenden Stimmen übertönten hell das dunkle Gemurmel der Ermüdeten.

Paul Wolffenau hatte sich einen Platz auf der Treppe zu dem Bahnsteig ausgesucht, auf dem irgendwann einmal, vielleicht in sechs oder acht oder vierundzwanzig Stunden, ein Zug gehen sollte. Freilich hatte das nur ein beliebiger Bahnbeamter gesagt, und auch der wußte nicht, wohin der Zug gehen würde. Immerhin, wenn er nur ging, wenn man nur aus diesem verdammten Nest herauskam, in dem man schon seit sechsunddreißig Stunden festsaß.

Wenn der Zug südwärts ging, so würde er Jochen aufsuchen, vorausgesetzt freilich, daß Jochen noch lebte, daß er schon zurück war. Aber wenn er nicht zurück war, würde vielleicht Lena da sein, seine Frau. Ganz bestimmt würde sie da sein! Sie verteidigte mit Klauen und Zähnen das winzige Haus, den Rosengarten, die Möbel, die Meißner Tassen und die Ahnenbilder. Aber vielleicht ging der Zug auch nach Norden. Ebenso recht. Da konnte er erst mal bei den Larsens unterschlüpfen. Die hatten ihr Landhaus bei Hamburg mit dem Blick über die majestätische, in Trümmer eingefaßte Elbe mit den spärlichen Fischdampfern, die da schon wieder aus- und eingehen mochten. Oder der Zug ging nach Westen. Nein, bitte nicht. Denn dann würde er sich verpflichtet fühlen, seinen Vater aufzusuchen. Paul I., wie er ihn nannte. Dann schon lieber nach Nordwesten zum großväterlichen Schloß nach Holstein, zur Mama, die sich gern noch immer die „schöne Mossigny“ nennen ließ. Er sah sie neben ihrem Vater, dem mürrischen alten Grafen Mossigny, im Biedermeiersalon sehr gerade auf den unbequemen Stühlen sitzen, ein Buch vor sich, dessen Inhalt sie in vornehmer Distanz wohl kaum zur Kenntnis nahm, oder über das Haushaltsbuch gebeugt, das sie mit ihrer kleinen, zierlichen Schrift sorgsam führte und das doch nie stimmte. Er sah sich eintreten. Sie hob den Kopf, lächelte ihm höflich und freundlich zu und sagte mit ihrer klagenden und klangvollen Stimme: „Ah, da bist du ja, Paul. Gedulde dich einen Moment. Ich habe ein kleines Defizit. 106 Mark. Das muß doch herauszukriegen sein.“ Aber es war nicht herauszukriegen. Nein ... er würde also nicht nach Norden und Westen und nicht nach Nordwesten fahren. Und nach Osten auch nicht. Denn da kam er ja gerade her. Wohin also?

Wolffenau setzte sich seufzend auf seinen Rucksack, der prall gefüllt und nachgiebig wie ein Kissen war. Angenehm, einmal weich zu sitzen. Aber es wurde jetzt kühler. Er knöpfte das bunte türkische Seidenhalstuch fester, klappte den Kragen des Regenmantels hoch und schob den Hut in den Nacken. Man konnte jetzt das gelockte, etwas drahtige, schwarze Haar sehn und seine merkwürdig hellen blauen Augen. Noch den Koffer zwei Stufen tiefer zurechtgerückt und als Fußschemel benutzt! So. Nun saß es sich ganz gemütlich.

Noch eine Pfeife? Er begann in seinen Taschen zu kramen. Der Teufel mochte wissen, wo sich wieder der Tabaksbeutel verkrochen hatte. Brieftasche, Taschentuch, Messer, ein kleines goldenes Salzlöffelchen mit dem Wappen der Mossignys, einem Greifen mit gierig gespreizten Krallen (ein Hochzeitsgeschenk der Mama), das Feldbesteck, Löffel und Gabel in einem, blechern und etwas verschmutzt von der letzten Flüchtlingssuppe, die mit Leukoplast bandagierte Pfeife, das runde Feuerzeug, blitzblank und für dreißig Mark soeben auf dem Schwarzen Markt vor dem Bahnhof erworben, eine bunte Kette aus indischen Halbedelsteinen, der Pfeifenstopfer und endlich der Tabaksbeutel, speckig glänzend und verdammt mager. Wolffenau hatte den Tascheninhalt neben sich auf die Stufen geschichtet, reinigte umständlich die Pfeife und stopfte sie langsam und sorgfältig. Ein bärtiger zerlumpter Mann blieb neben ihm stehn und sah ihm mit gierigen Augen zu. Paul blickte auf und hielt ihm den Beutel hin. Der Bärtige bediente sich blitzschnell und gewandt. Dabei begann er seine Leidensgeschichte herunterzuleiern. Von einem Kolonialwarenladen im Osten, dem ersten am Platze, mit blitzenden Scheiben und vollgestopften Auslagen. Spezialität: Schnäpse und Liköre aller Art. Zweihundert Flaschen lagen noch eingemauert und von niemandem zu finden unter den Trümmern. Ein Kapital heute, wenn man nur herankönnte. Von einer Wohnung, ganz modern eingerichtet mit spiegelnden Hölzern und einem riesigen Kristallüster im Speisezimmer, den man beim Brande klirrend hatte herabfallen hören. Von seiner Frau, die noch vor zwei Jahren lustig, schön und elegant war, und jetzt saß sie zerlumpt und alt, immer weinerlich, mit Tränensäcken unter den Augen, da hinten zwischen den anderen aus der Stadt, kaum zu unterscheiden von den Grünkramhändlerinnen, mit denen sie früher kein Wort gesprochen hätte.

Paul hielt ihm das Feuerzeug hin. „Ja“, sagte er abschließend, „so ist das.“ Wie viele Schicksale hatte er in den letzten fünf Tagen aufgeblättert gesehn, vergleichsweise harmlose wie das dieses Kolonialwarenhändlers und schauerliche, die man am besten gleich wieder wie Herbstlaub ins Vergessen hinuntersinken ließ, um damit das eigene Schicksal zuzudecken. „Schauderhaft“, sagte er abwesend und abweisend und steckte nun auch seine Pfeife in Brand. Das neue Feuerzeug funktionierte wirklich tadellos! Der Bärtige blieb noch eine Weile höflich wartend stehn, in der untertänig vertraulichen Haltung, mit der er früher seine prima Liköre und Schnäpse angeboten hatte. Dann kletterte er die Treppe hinab und verschwand im Halbdunkel des Gewölbes.

Wolffenau packte seine Sachen wieder in die Taschen. Die bunte Halbedelsteinkette behielt er einen Augenblick in der Hand. Es war ein Geschenk Cassemberts, des großen belgischen Architekten, seines Lehrers, an Gertie, seine Frau.

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