Walther von Hollander - Licht im dunklen Haus

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Anna Favetti, das schöne Mädchen mit der merkwürdig dunklen Stimme, schwankt zwischen Pflicht und Liebe, zwischen Mitleid und Hingabe, zwischen der Macht des Todes und dem Recht auf Leben. Starre Familientradition bindet sie an das dunkle, geheimnisvolle Haus im Engadin, Mitleid und Kindesliebe an den Vater, der seit Jahren auf die Rückkehr seines verschollenen Sohnes wartet. Zwischen Weihnachten und Neujahr aber, in der gleichen Nacht, in der vor Jahren der Bruder das Elternhaus verließ, tritt der deutsche Ingenieur Hemmsteet in das Leben des Mädchens.Siegt über alle Bedenken und Pflichten die erwachende Liebe der beiden?Mit jener psychologischen Feinheit und dem menschlichen Takt, den Walther von Hollander in all seinen Büchern beweist, erzählt er in diesem Roman von der schicksalhaften Begegnung eines durch den Krieg entwurzelten Mannes mit der seelisch vereinsamten Favetti. Der Autor drängt das Geschehen auf wenige Tage zusammen und lässt sein Werk mit zarter Wehmut in ein neues Glück ausklingen.

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Walther von Hollander

Licht im dunklen Haus

Roman

Saga

Licht im dunklen Haus

© 1953 Walther von Hollander

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711474624

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

1

Der Ingenieur Hemmsteet kam mit dem Frühzug in Sankt Moritz an. Er ging gleich aufs Postamt, bestellte ein Ferngespräch nach Düsseldorf und saß im halbdunklen Schalterraum geduldig, das Gesicht in den Händen. Draußen schneite es in großen Flocken. Die Berge waren vernebelt. Es ist wie im Krieg, dachte Hemmsteet, aufregend und langweilig. Man wartet, wartet und das Herz klopft.

In diesem Augenblick kam das Gespräch. Hemmsteet stand in der Telefonzelle, die Augen etwas zusammengekniffen. Die rechte Hand, zur Faust geballt, drohte dem fernen Sprecher. „Ich will nicht mehr“, schrie er so laut, daß man es durch die Polsterwand hören konnte, „will nicht mehr. Machen Sie Schluß!“ Und nach einer Pause, in der er gespannt in die Hörmuschel hineinhorchte: „Die Bedingungen müssen Sie aushandeln. Sehen Sie zu, daß man mir den Hals nicht zuschnürt. Ein bißchen Atem brauche ich noch.“

Er kam mit leicht gerötetem Gesicht aus der Telefonzelle, marschierte, die schwarze Pelzmütze in der Hand, zum Bahnhof zurück. Es schneite auf seine eisgrauen Haare, die merkwürdig aussahen, weil ihnen das ziemlich junge, glatte Gesicht erst nachaltern mußte.

Hemmsteet nahm sich einen Schlitten und fuhr nach Sils Maria hinüber. Seinen ziemlich schäbigen Gehpelz hatte er bis an die Ohren gezogen, die wärmende Pelzmütze tief in die Stirn. Weit zurückgelehnt, bewegungslos lag er im Schlitten. Neben ihm steckten die Skier und zeigten in die Tannen, die die Straße begleiteten, auf die Felswände, die sich in Wolken verloren. Der Schnee fiel und fiel. Er fiel in Hemmsteets Gesicht. Die Flocken tauten auf seinen starken Backenknochen, auf seinen schmalen, zusammengekniffenen Lippen. Sie blieben in den großen Augenbrauen sitzen, im Pelzkragen und auf der Pelzmütze. Hemmsteet schlief, nachdem er vierundzwanzig Stunden, eine Bahnfahrt lang, gegrübelt und gehadert hatte, endlich leicht und traumlos.

Der Kutscher klingelte mit dem schlafenden Fahrgast vor das vornehmste Hotel in Sils. Der Portier und der Page vom Dienst kamen heraus und hoben bedauernd die Schultern. Es war leider alles besetzt. Der Kutscher fuhr den Schlafenden zum nächsten Hotel. Alles besetzt. Zum nächsten: dasselbe! Der Kuscher wurde ungeduldig und weckte den Fahrgast. „Ich habe es Ihnen ja gleich gesagt“, murrte er, „es ist alles überfüllt. Zwischen Weihnachten und Neujahr ist sowieso wenig Platz. Dazu morgen noch diese Weltmeisterschaft ... Eisschnelläufer!!“

Hemmsteet nickte, stieg aus, bezahlte, stellte Koffer und Skier auf die Straße. Er ging in den nächsten Laden, kaufte einen Rodelschlitten, verstaute das Gepäck darauf und marschierte geduldig von Haus zu Haus. Es war im ganzen Ort kein Bett frei. Hemmsteet trank einen Tee in der überfüllten Konditorei. Er hörte, wie man sich über die Aussichten der Schnelläufer mit einem Eifer stritt, als seien es die Aussichten der Welt. In einer Ecke war ein Tisch durch eine Menschenmauer blockiert. „Dort sitzt Kingston, das englische Schnellaufwunder“, flüsterte der Kellner.

„Sagen Sie mir lieber, wo man hier wohnen kann“, antwortete Hemmsteet, „möglichst einsam übrigens.“

Der Kellner schüttelte mitleidig den Kopf. „Die Zimmer in Sils Maria sind seit vier Wochen ausverkauft. Es ist völlig aussichtslos.“

„Ich werde ein Zimmer bekommen, ein einsames dazu“, sagte Hemmsteet hartnäckig und drückte dem Kellner fünf Franken in die Hand.

Der Kellner besah das Geldstück träumerisch. „Da wäre vielleicht ...“, sagte er langsam, „aber nein, das ist doch nichts. Außerdem nehmen sie nicht jeden, diese Favettis. Sie haben es wohl nötig, aber nicht so nötig.“

„Also ... das ist die richtige Adresse“, schloß Hemmsteet.

Der Kellner beschrieb den Weg genau. Es waren etwa vierzig Minuten zu Fuß. Er warnte nochmals. Es sei ziemlich ausgeschlossen, daß die Favettis jetzt in der Festzeit jemanden aufnähmen.

Draußen dämmerte es. Immer noch fiel Schnee. Vor allen Häusern kratzten die Schnee-Eisen. Es roch nach Schneeweite und Hotelabendbroten. Von den Paßhöhen kamen klingelnd die Schlitten mit den vermummten Ausflüglern aller Nationen herunter. Hemmsteet stapfte gemütlich durch den hohen Schnee. Die Bäume trugen riesige Schneelasten. Ein Weg war kaum mehr zu erkennen. Aber man sah den Silser See dunkel heraufblicken. Man hörte die Rufe der trainierenden Schnelläufer. Der See gurgelte und dröhnte unter den Kufen der Schlittschuhe. Hemmsteet schwitzte in seinem Pelz. Die Wundnarben an den Knien begannen zu schmerzen. Die Gedanken hatten ihn wieder und zwickten ihn.

Es war natürlich Unsinn, daß er hergefahren war. Sehr zweifelhaft, ob er würde Ski laufen können, und ganz sicher, daß er seinen Gedanken nicht entlaufen war. Da hätte er auch noch den Schluß der albernen Tragödie, der herzzerreißenden, in Düsseldorf abwarten können. Aber zum Schluß verlor er ja immer die Geduld. Darum ereichte er nie etwas Ordentliches. Weder als Erfinder noch als Offizier, weder als Ingenieur noch als Ehemann. Viel Kraft, viel Können, wenig Geduld ... das hatte sein erster Vorgesetzter in Amerika gesagt. Das war die Formel seines Mißerfolges. Er blieb stehen und trocknete sich das Gesicht. Er atmete den kalten und starken Duft von Föhren und Schnee. Mißerfolg? Das wog nichts in dieser leichten Luft.

Hemmsteet stapfte geduldig, den Kinderschlitten hinter sich, weiter, eine halbe Stunde, eine dreiviertel Stunde Endlich sah er ein helles Fenster zwischen den Tannen schweben. Er ging eine Tannenallee hinauf. Ein Schäferhund fuhr wütend aus seiner Hütte und bellte lärmend. Hemmsteet sprach leise und vernünftig auf ihn ein. Er wolle nichts stehlen, niemanden forttragen, niemanden stören, mit niemandem sprechen. Er wolle ein Zimmer haben, ein warmes Bett und Ruhe. Der Hund bellte und knurrte weiter. Endlich wurde das Türlicht angezündet. Eine alte Frau, die Haushälterin Bertha war es, sah mißtrauisch durch den Türspalt.

Hemmsteet brachte sein Anliegen vor. Die Alte schlug die Hände in ihre Schürze und schüttelte den Kopf. Zwischen Weihnachten und Neujahr sei nichts zu machen. Da nehme der Herr Favetti ein für allemal keine Fremden. Hemmsteet öffnete die Tür mit einiger Gewalt und trat durch einen Windfang in die schön gerundete, halbdunkle Diele, in deren Kamin ein kleines Feuer brannte. Sie solle ihn nur melden. Er werde dem Herrn Favetti schon sein Anliegen vorbringen.

Die Alte verschwand. Hemmsteet stellte sich an den Kamin und wärmte sich. Die Diele gefiel ihm gut, mit ihrer braunen Holztäfelung und den Bildern an den Wänden. Es waren lauter Porträts, augenscheinlich die Herren Favetti mit ihren Frauen. Favettis in Gehröcken, in Vatermördern, in Halstüchern und in Flachkragen, alle wie vom gleichen Maler gemalt. Es war eine Familie also, die wußte, was sie wollte, und bekam, was sie bestellte.

In diesem Augenblick kam Herr Gian Favetti durch eine Tür, die fugenlos in der Täfelung saß. Er stand da wie von der Wand gestiegen, in einem altväterischen dunkelbraunen Gehrock, mit einem altmodischen Halstuch an Stelle des Kragens, in dem eine kostbare Nadel blitzte. Sehr gerade in der Haltung, aber etwas unruhig im Blick.

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