Anna schüttelte den Kopf. „Weiter“, sagte sie, „was wollten Sie noch fragen?“
„Nichts weiter“, antwortete Hemmsteet, „das wollte ich fragen. Das heißt, ich wüßte gern, wie Sie darüber denken. Schließlich, nicht wahr, haben Sie ja viel Zeit gehabt, darüber nachzudenken.“
„Ja, ich habe Zeit gehabt“, sagte Anna ernst.
Hemmsteet fing an, weiterzugehen. Er stemmte die Stöcke gut in den Boden und zog mit großen Schritten davon.
Anna hielt sich dicht neben ihm.
„Sie brauchen nicht gleich so finster dreinzuschauen“, sagte sie, „das ist doch Unsinn. Sie haben natürlich nie Zeit gehabt. Man merkt es an Ihrer Ungeduld.“
Sie gingen schweigend nebeneinander her. Der Nebel schob sich vom Tal herauf. Es wehte plötzlich eiskalt. Sie standen schon mitten zwischen zierlichen dünnen Wolkenfetzen.
„Wenn das Leben keinen Sinn hätte“, sagte die junge Frau mit der dunklen Stimme, „wenn das Leben keinen Sinn hätte ... Aber ich bitte Sie, wie kann ein Mann mitten im Leben so etwas denken? Das ist ja ganz schrecklich!“
Hemmsteet zuckte die Achseln. „Vielleicht ist es schrecklich. Vielleicht ist es aber trotzdem so. Das ist doch möglich, nicht wahr?“
„Wir müssen jetzt abfahren“, schloß Anna Favetti, „es wird ganz schnell dunkel. Passen Sie genau auf. Wir fahren erst hier am Hang, dann an den ersten Tannen rechts über den Abhang weg. Halten Sie sich immer dicht hinter mir. Es ist wirklich fast nichts mehr zu sehen. Übrigens ... wenn das Leben keinen Sinn hätte ... nein ... nein ... unmöglich ...“
Nach dieser etwas diktatorischen Antwort begann die schnelle Abfahrt. Anna Favetti lief ausgezeichnet, leicht, gleichgewichtig und federnd. Hemmsteet hatte Mühe, ihr zu folgen. „Sie müssen aufpassen, daß ich Sie nicht umrenne“, schrie er einmal; aber sie war immer so weit voran, daß er sie nicht erreichen konnte.
Als sie unten ankamen, setzte der Schneefall ein. Der Hund, Lio mit Namen, begrüßte sie freudig. Bertha, die Haushälterin, sah mürrisch zur Seite, als sie zusammen die Diele betraten.
Hemmsteet fand in seinem Zimmer ein Telegramm seines Anwalts. Es war nicht möglich gewesen, einen Termin vor dem zehnten Januar zu bekommen. Bis dahin sollte sich Hemmsteet in Geduld fassen. Und ein Eilbrief war da, der nicht länger gebraucht hatte als das Telegramm, das vierundzwanzig Stunden postlagernd auf Hemmsteet gewartet hatte. Was man sechs Jahre getragen habe, schrieb der Anwalt, könne man auch noch vierzehn Tage tragen, wenn man die Sache überstürzte, kämen nur unsinnige Forderungen von Brigitte heraus. Außerdem habe Hemmsteet ja oben im Engadin jetzt in dieser herrlichen Schneezeit nichts auszustehen. Ob er übrigens erklären könne, warum Kingston (England) im Schnellauf gesiegt habe statt Liteinen (Finnland). Ihm, dem Anwalt, sei das ein völliges Rätsel. Der kleine Liteinen sei doch dem langen Kingston um Klassen überlegen.
Hemmsteet wollte sich nicht über den Scheidungstermin ärgern, aber er ärgerte sich doch sehr. Es schien ihm ungeheuer wichtig, diesen Lebensabschnitt zu beenden. Er wollte frei sein. Er wollte etwas Neues anfangen können. Ja ... was wollte er denn anfangen? Das wußte er allerdings nicht. Vielleicht wirklich nur anfangen aufzuatmen und sich frei zu fühlen. Weiter nichts? Nein! Zunächst weiter nichts.
Er hörte sich wieder fragen: Hat das Leben einen Sinn? Und die dunkle Stimme Anna Favettis antwortete. Nein, sie antwortete nicht. Sie wich aus in einen Wennsatz. „Wenn das Leben keinen Sinn hätte ... Nein ... nein ... unmöglich ...“
Abends saßen Hemmsteet und der alte Favetti wieder über ihrer Partie Schach. Sie hatten sich in eine verzwickte, fast unlösbare Aufgabe verrannt. Frau Favetti strickte an einem Riesentuch. Die Nadeln klapperten gleichmäßig. Anna saß neben ihrem Vater und rieb ein paarmal ihren Kopf an seiner Schulter wie ein junges schwarzes Füllen. Die Herren dampften gewaltige Wolken aus ihren Pfeifen. Bertha brachte ab und zu frischen Glühwein. Es war draußen wieder ganz still. Der Schnee fiel unablässig und lautlos in großen Flocken. Es war dabei recht kalt, man spürte es, wenn die alte Bertha hereinkam.
Anna spielte gut mit ihrem Vater gegen Hemmsteet. Um elf Uhr war er matt. Die Damen gingen schlafen. Herr Favetti aber holte noch einen alten Burgunder aus dem Keller. Er müsse seinen Sieg feiern. Er sei nicht wenig stolz, da Hemmsteet ein prachtvoller Spieler sei.
Hemmsteet gab die Schmeicheleien verdoppelt zurück. Der Alte, das merkte man, war durstig nach Anerkennung. Wahrscheinlich hatte er in seinem Leben zu wenig gearbeitet und zu viel Geld verloren.
„Sie waren im Kriege?“ fragte der alte Favetti dann unvermittelt.
Hemmsteet nickte. „Natürlich“, sagte er. „Fast alle Männer meines Alters in Deutschland waren im Kriege.“ Er sagte es abweisend. Er hatte wie die meisten Kriegsteilnehmer keine Lust mehr, viel darüber zu sprechen.
Aber Favetti ließ nicht locker. An welcher Front er gewesen sei? So, so ... Nur an der Westfront? Niemals an der italienischen Front? Nein, niemals! Herr Favetti war enttäuscht. Die Alpenflüge, meinte er geistesabwesend, seien doch gewiß für einen Flieger interessante aviatische Probleme gewesen.
Hemmsteet nickte. Sicherlich. Er sei aber nur an der Küste und in der Ebene geflogen. Gebirgsflüge kenne er nicht und werde sie leider auch nicht kennenlernen. Seit fünf Jahren habe er nicht mehr in einer solchen „Kiste“ gesessen. Es konnte sein, daß die Beine plötzlich einmal versagten, gerade dann, wenn sie nicht versagen durften. Hier, er zeigte auf seine Knie, und hier seien die Kugeln durchgeschlagen. Ein andermal vielleicht werde es sich ergeben, daß er dem Herrn Favetti die aufregende und seltsame Geschichte seiner Rettung erzählte.
„Ein andermal“, sagte Herr Favetti abweisend, „jetzt im Augenblick wollte ich Sie etwas anderes fragen. Sie wissen ja als Flieger auch, daß in Frankreich ein paar italienische Divisionen eingesetzt wurden. Und einmal, bei der großen Märzoffensive ist doch eine von diesen Divisionen fast ganz in Gefangenschaft geraten. Bitte, erinnern Sie sich!“
Hemmsteet erinnerte sich dunkel, und Herr Favetti nahm darauf hastig ein Amateurbild aus seiner Brusttasche. Er reichte es Hemmsteet hinüber. „Hier, das ist mein Junge“, sagte er. „Achtzehn Jahre alt. Jetzt ist er zweiunddreißig.“
Hemmsteet nickte. Er besah das Bild aufmerksam. Der Junge sah seinem Vater sehr ähnlich. Nur viel runder war das Gesicht. Die Augenbogen und die Wangenbogen waren bei ihm so romanisch gerundet wie bei Anna Favetti. „Sehr ähnlich“, sagte Hemmsteet und reichte das Bild zurück.
Der Alte beugte sich geheimnisvoll zu seinem Gast. „Es könnte doch sein“, sagte er, „es ist schließlich nicht unmöglich, daß Sie ihm begegnet sind.“
„Nein“, antwortete Hemmsteet bestimmt, „ich habe ihn ganz gewiß nie gesehen.“ Er sah das kummervolle Gesicht des alten Favetti prüfend an. Er überlegte, ob es einen Sinn hatte, ihn vielleicht zu belügen. „Nein“, wiederholte er nachdrücklich, „ich erinnere mich nicht.“
Der alte Favetti schien die Ablehnung nicht gehört zu haben. Auf seinem Gesicht stand ein eigensinniger Zug. Seine Augen erloschen, die noch eben gespannt und lebendig wie Jägeraugen geblickt hatten. Er stand auf, gähnte ein bißchen, entschuldigte sich mit großer Müdigkeit und ging hinaus. Er kam nach einer, zwei Minuten mit zwei großen Windlaternen aus dem Schuppen, marschierte durch den Schneegarten, durch den Schneewirbel, kam ohne Laternen wieder. Hemmsteet saß noch eine Weile am Kamin, trank langsam die Flasche Burgunder aus, starrte in die Flammen, die zusammenfielen, dachte gar nichts. Dachte, wie müde er sei. Eine halbe Stunde später kam Favetti im Skianzug die Treppe hinuntergeschlichen. Er vermied die knarrenden Stufen mit großer Behendigkeit. Lautlos ging er an Hemmsteet vorbei, als sähe er ihn nicht, und stapfte in den Schnee hinaus. Man hörte ihn leise ladinisch auf den Hund einsprechen. Augenscheinlich hatte er ihn von der Kette gelöst und nahm ihn mit sich. Das Bellen des Hundes erklang immer ferner. Die Rufe Favettis: „Gian, Gian“ verloschen. Der Schnee fiel weiter.
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