Hemmsteet lachte. Ob sie, als junge Frau, nicht manchmal Lust habe, etwas ganz und gar Überflüssiges zu tun?
Anna nickte. Doch, sie war manchmal sehr darauf aus. Aber langsam hatte sie eingesehen, daß es für sie nicht gut paßte.
Warum?
Sie konnte das nicht mehr beantworten. Denn die alte Bertha kam mit dem Tee, und es schien Hemmsteet so, als ob sie ihn etwas gewaltsam von der Tochter des Hauses wegholte. Er war ziemlich böse darüber. Er fand es albern. Abends gegen neun holte ihn Herr Favetti herunter. Ob er vielleicht Schach spiele? Anna, sein täglicher Partner, sei müde und ins Bett gegangen.
Hemmsteet spielte sehr gut Schach. Er saß mit dem alten Favetti lange am Kamin. Zuerst röstete seine rechte Seite. Dann wechselten sie, und die linke Seite kam dran. Favetti gewann die erste Partie. Die zweite brachen sie gegen zwölf Uhr ab bei leichtem Vorteil für Hemmsteet. Sie verstauten das Schachbrett vorsichtig, um am anderen Tage weiterzuspielen.
Danach saßen sie noch eine Stunde beim Wein. Frau Favetti war schlafen gegangen. Bertha brachte einen riesigen Teller mit Broten. Favetti rauchte aus einer langen holländischen Tonpfeife. Hemmsteet hatte die kleine englische Pfeife zwischen den Zähnen. Der Wind draußen pfiff laut, Der Hund heulte zuweilen in die aufgeregten Tannen hinein.
Favetti sprach über seine Familie. Er nahm einige Bilder von der Wand. Die meisten Männer hießen Gian Favetti. Die jüngeren Söhne, Renato, Ugo, Icilio mit Namen, wurden nicht gemalt. Sie wanderten nach Italien hinunter. In manchen Generationen wurden sie gar nicht geboren. Viele Favettis hatten nur einen Sohn und eine Tochter. Das war allerdings das, was die Familientradition verlangte. „Aber manchmal“, lachte Hemmsteet, „ist es auch nur eine Tochter.“
Favetti sah seinen Gast lange prüfend an. „Nein“, sagte er, „ich habe auch noch einen Sohn.“
Er nahm das letzte Bild von der Wand. „So sieht er aus“, sagte er. „Genau so, wie ich aussah, als ich so alt war, wie er jetzt ist.“
Hemmsteet sah das Bild lange an. Er wußte nichts über den blassen Jüngling zu sagen. Er sprach lieber von einer neuen Erfindung für die Fliegerei. Man konnte jetzt wirklich einen Roboter fliegen lassen. Man ließ den Apparat aufsteigen und lenkte ihn funkentelegrafisch vom Landehafen aus. Großartig, nicht wahr?
„Ja, großartig“, nickte Favetti. Aber er hatte nicht zugehört. Er hatte nach draußen gehorcht. Er lief vor die Tür, und während der Hund ihn freudig umsprang, rief er in den Sturm hinaus: „Gian, Gian!“
Der Sturm drückte sein Rufen in die Diele zurück.
Am anderen Morgen war Nebel. Hemmsteet verließ das Haus schon früh. Er hatte fast zwei Stunden zu klettern, bis endlich die Wolken lichter wurden, bis er endlich aus dem Nebel herauskam.
Es war oben ganz still. Kein Wind wehte, kein Baum seufzte. Kein Vogel sang, kein Tier rief. Sonne und Schnee, soweit man sah, und darunter die seltsame Jagd der grellweißen Wolken. Er legte sich auf seine Bretter. Er wollte nachdenken. So hatte er sich das vorgenommen. Hinauffahren ins Engadin und über alles klarwerden. Das letztemal war er vor sechs Jahren mit Brigitte dagewesen. Auf der ersten Reise, die sie zusammen machten. Hier, in der Nähe waren sie bestimmt gewesen. Er erkannte es jetzt an der Form des Berges, der die Hochebene überzackte. Brigitte hatte ein buntes Skikostüm an, wie man es damals trug, ein hellgelbes Halstuch. Sie sah herrlich aus in der Sonne, hell, schattenlos. Komisch, nicht wahr, daß der erste Ausflug ihn auf die Spuren der Vergangenheit brachte? Sechs Winter lang war Schnee gefallen, sechs Sommer lang war Wasser den Berg hinunter gestürzt. Aber dies Bild, Brigitte in Sonne und Schnee, war unversehrt. Nicht zugeschüttet, nicht zerschmolzen, nicht zerflossen. War dies Bild etwa die Wahrheit, das Bild der sorglosen, lachenden, kräftigen und schönen Frau? Oder war sie so, wie sie sich in den letzten Jahren gab: dunkel, unverständlich und zerstörerisch?
Hemmsteet faltete die Hände unter dem Kopf und blinzelte in die Sonne. Hier oben, in der leichten und klaren Luft begriff er die letzten Jahre weniger als je. Er dachte an sein kleines Haus in Düsseldorf, draußen in einer Villenstraße. Er dachte an sein Atelier, das so schlecht gebaut war, daß in jedem November der Regen durch die Decke tropfte, daß bei jedem Sturm die Teppiche auf dem Fußboden sich aufhoben. Er sah sich über seine Zeichnungen und Entwürfe gebeugt, einen fremden, überanstrengten, traurigen Herrn mit eisgrauen Haaren über einem jungen Gesicht. Er sah erstaunt zu, wie Jahr um Jahr, Arbeit um Arbeit, Kummer um Kummer wolkenhaft über den Mann Hemmsteet da unten hinzog. Er hörte, wie die Treppe knarrte. Er sah Brigitte Hemmsteet eintreten, die eine Schulter, die eine Hüfte leicht vorgezogen, etwas männlich gekleidet, mit Sweater und einem knappen hellen Rock. Er spürte sie näherkommen und sich über die Schulter jenes fremden Ingenieurs Hemmsteet beugen. Er hörte sie seufzen. Wie sie die Zahlen und Zeichnungen haßte! Wie sie die „sture“ Arbeit verabscheute! Hemmsteet konnte in den letzten Jahren nicht mehr arbeiten, wenn Brigitte hinter ihm stand. Das war nicht verwunderlich. Davon mußte man sich befreien. Gut. Das war schon ein Ergebnis. Weiter ... Nein, er kam nicht weiter. Mit einemmal hatte ihn die Müdigkeit gepackt, das Gefühl der vollkommenen Leere, in die er einschlafend hineinfiel.
Als er aufwachte, saß Anna Favetti neben ihm. Sie hockte auf ihren Brettern und sah ihn gespannt an. „Hier darf man doch nicht schlafen“, sagte sie vorwurfsvoll. „Sie hätten jämmerlich erfrieren können.“
„Sicherlich“, lächelte Hemmsteet, „wenn Sie nicht gekommen wären. Aber Sie sind ja gekommen.“
„Zufall“, sagte Anna etwas ärgerlich.
Hemmsteet schüttelt den Kopf. „Man kann nicht mehr zufällig umkommen, wenn der Krieg einen übriggelassen hat“, sagte er etwas lehrhaft. „Oder meinen Sie doch?“
Anna nickte. Ja, das meinte sie natürlich. Wieso bedeutete es ein Privileg, daß man übriggeblieben war?
Hemmsteet richtete sich etwas mühsam auf. Die Knochen schmerzten ihn. „Es ist wirklich ein gefährlicher Unsinn, hier zu schlafen“, sagte er. Und nach einer Pause, als spräche er von einer ganz anderen Sache: „Vielleicht ist doch eine Kraft da, die noch etwas mit uns vorhat.“
„Vielleicht“, sagte Anna leise. Sie wandte sich um und zeigte auf die Sonne, die schon ziemlich schräg über den Westgipfeln stand. Es war Zeit, abzufahren. Aber Hemmsteet war noch nicht fertig mit seinen Gedanken. Er mußte das Fräulein Favetti noch etwas fragen. Vielleicht war es eine Kleinkinderfrage oder eine Jungmädchenfrage. Aber hier oben hörte sie niemand, und so konnte er sie vielleicht doch fragen.
„Sie müssen sich nicht immerfort entschuldigen“, lachte Anna Favetti. „Ich kenne Sie nicht, und Sie kennen mich nicht. Da ist es noch leicht und bequem, miteinander zu sprechen. Später ist es nicht mehr so einfach.“
Hemmsteet sah das junge Mädchen erstaunt an. „Woher wissen Sie das?“ fragte er. „Sie waren doch nie verheiratet?“
Anna lachte. Nein, sie war nicht verheiratet. Oder ob der Herr Hemmsteet denn glaube, daß man durch Heiraten Wissen und Einsichten einsammle? Ihre wenigen Freundinnen jedenfalls seien durch die Ehe nicht gescheiter geworden, sondern nur ein bißchen ängstlicher innen und ein bißchen selbstbewußter außen. Und nach dieser langen Unterhandlung sollte der Herr Ingenieur endlich mit seiner Frage herausrücken. Sie sei schon ganz gespannt.
Sie hatte die Skistöcke unter die Schultern geklemmt und lächelte den Fremden an. Dieses Lächeln war überaus anmutig, aber sehr von oben herab, sehr von fern her, wie Hemmsteet abwehrend feststellte. Eigentlich war für ihn diese Unterhaltung beendet. Trotzdem fragte er endlich: „Meinen Sie, daß das Leben einen Sinn hat?“
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