Walter von Hollander
Lucia Bernhöven
Roman einer frau
Saga
Januar 1946
Zum ersten Male hörte ich ihre Stimme im Rundfunk. Es muß kurz nach dem großen Zusammenbruch gewesen sein, Ende 1945 also. Sie sang ein kleines, freches Loblied auf die verehrungswürdigen Dunkelmänner, auf die Schwarzhändler, die Geber aller Gaben, die einzigen, die das Leben des Durchschnittsmenschen noch lebenswert machten. (Diesen Durchschnittsmenschen nannte man damals den Normalverbraucher, und er war die vielverspottete Zentralfigur der Witzecken in den dünnen Einheitszeitungen.) Das Lied selbst war musikalisch-geistreich einem bekannten Choral nachgebildet, und die Orgelklänge lösten sich in freche Jazzrhythmen auf. Die Stimme der Sängerin war klein, geschmeidig, ungewöhnlich hell, um plötzlich in fast baritonale Tiefen hinabzutauchen. Sie sang spritzig und witzig, mit einer unüberhörbaren Melancholie als Unterton. Ihren Namen konnte ich bei dieser Sendung nicht verstehen.
Ein Vierteljahr später sah ich sie dann in einem Kabarett, in Düsseldorf, glaube ich, oder in Frankfurt. Ich weiß es nicht mehr. Doch – es muß Frankfurt gewesen sein. Denn ein Freund, der dicke Journalist Rabner, führte mich hin.
Das Kabarett war in einer Kellerkneipe untergebracht, zu der man über Ruinen und halbzerborstene Treppen hinunterklettern mußte. Der kahle Raum, nicht größer als ein großes Wohnzimmer, hatte im Kriege als Bombenkeller gedient. Die Angst saß noch in den nassen Wänden. Die dichtgedrängten Zuschauer heizten, und das Wasser perlte aus dem rohen Putz. Das Programm? Nun: die Lustigkeit der kleinen Sketsche und Parodien war recht angreiferisch. Die regierenden Politiker wurden verspottet, die gefallenen Größen hart und gellend verhöhnt, die Besatzungen und ihre Veronikas, die mit Zigaretten billig eingekauften deutschen Frauen, wurden vertraulich angerempelt. Dazwischen also trat sie auf: Lucia Bernhöven. Sie schien eine Mittelpunktsfigur des Ensembles zu sein; denn sie wurde von erwartungsvollem Beifall der Stammgäste begrüßt. Sie stand während dieses Beifalls lächelnd und zurückhaltend auf dem winzigen Podium: ziemlich groß, breitschultrig, schmalhüftig, mit hellblonden, pferdesträhnigen Haaren, die glatt dem wohlgeformten langen Schädel anlagen und durch einen unmodernen Knoten im Nacken zusammengefaßt wurden. Sonst hätte man sie auch für dreißig oder für noch jünger halten können. Sie trug ein enganliegendes Brokatkleid, ziemlich ausgeschnitten. Um den Hals hatte sie eine breite, unechte goldene Kette geschlungen, an der ein handtellergroßes Herz aus blutrotem Glas hing. Eine Dame, eine richtige, echte Dame – das war mein erster Eindruck –, durch wer weiß was für einen tückischen und falschen Wind auf dieses Podium geweht, das im Rauch der unzähligen Zigaretten wie in einem Nebel fast verschwand.
Nebelhaft und verschleiert setzte auch ihre Stimme ein, der merkwürdig helle Sopran, der dann gleich in jene männliche, baritonale Tiefe hinabsank, die mir beim ersten Hören aufgefallen war und an der ich sie wiedererkannte. Das Chanson aber, das sie sang, war von einer graziösen, oberflächlichen Heiterkeit, und der Refrain, der in einem Marschrhythmus gesungen wurde, hieß:
Wenn es so weitergeht ...
Dann geht’s nicht weiter ...
Es ist nicht heiter,
Wenn man im Dunklen steht.
Die wir im Dunklen stehen,
Wir Narren, wir Genarrten,
Wir wissen, es wird schon weitergehen.
Wir haben gelernt zu warten.
Man sieht, es war kein besonders geistvolles Lied. Aber es entsprach wohl dem galgenhumorigen, ironisch-ungemütlichen Gemütszustand jener Jahre im Niemandsland, da die Brücken alle eingestürzt waren und man noch nicht wußte, ob man jemals wieder an die andere, die hellere Seite des Flusses würde gelangen können. Freilich hatte die Bernhöven eine ungewöhnliche, schwer beschreibbare Darstellungskraft. Sie stand statuenhaft unbeweglich und maskenhaft lächelnd auf dem Podium, grau-weiß geschminkt, mit grellen Karmoisinlippen, die Augendeckel, die sie zuweilen wie Vorhänge über die milchhellen blitzenden Augen senkte, schwarz gefärbt. Gegen diese Starrheit bildete ihre lebendige, wechselreiche Stimme einen erregenden Gegensatz. Es war eine kleine Naturstimme, in einer mir unbekannten Technik ausgebildet und von einer ungewöhnlichen Kraft und Süße. Ja ... diese Süßigkeit und dazu eine große Herzlichkeit mochten wohl den starken Erfolg ihres eigentlich banalen Liedes erklären.
Der Beifall war heftig. Lucia dankte mit einem vergnügten Lächeln, mit einem mädchenhaften Knicksen, verschwand hinter den Kulissen aus Sackleinewand, tauchte wieder auf, winkte ab und sagte: »Ich habe ein anderes Lied. Leider paßt es nicht her. Wenn Sie es trotzdem hören wollen ...« Und indem sie den zustimmenden Beifall durch eine fast unwirsche Handbewegung wegwischte, begann sie ihr neues Lied. Es war ein einfaches, etwas melancholisches Lied, zu einer eintönigen Melodie gesungen. Sie sang es sehr vielfarbig bei aller Einfachheit des Ausdruckes. Ihr Gesicht war ganz verändert. Das Maskenhafte war abgefallen, und obwohl sie nur mit der rechten Hand ein paar illustrierende Bewegungen machte, war das eine genaue Darstellung dessen, was sie sang, die Darstellung des Herbstes, der Vergänglichkeit, des Sturmes. Das Lied aber, das sie mir erst sehr viel später schickte, lautete:
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben,
Grau wie der Nebel im Wald.
Aber manchmal auch blau wie der helle Himmel,
Wenn der Mittag herabscheint.
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben,
Vergänglich wie Laub und am Boden verflatternd.
Aber manchmal auch kühn und behende segelnd
Auf dem Rücken der Stürme.
Bunt wie das Laub im Herbst
Ist unser Leben.
Ungewiß bleibt, woher die Reise – wohin.
Der Sturm weiß es allein, der uns treibt.
Oder weiß er es auch nicht
Woher ... wohin?
Die Wirkung dieses Liedes war merkwürdig. Es gab fast keinen Beifall. Aber die buntgemischte Zuhörerschaft schien ergriffen. Denn sie stimmte durch eine lange Stille zu.
Mein Freund Rabner stand auf. »Wir können gehen«, sagte er, »was noch kommt, ist das Übliche. Finanzamt und Besatzungsmächte. Wir wollen ihr guten Tag sagen.« »Kennst du sie denn?« fragte ich naiv. Denn es gibt keine Frau von Bedeutung, die Rabner nicht kennt. Er zog auch nur beleidigt seine Augenbrauen hoch, die wie schwarze Schutzerker über seinen fensterhellen, farblosen flinken Augen standen, und drängte sich hinaus, indem er mit seinem gewaltigen weichen Bauch die Bankgenossen wegschob. Ich wollte nicht mitgehen. Aber bei Rabner nützen keine Proteste. Er lief eilig vor mir her, durch ein paar offene Kellergänge, in die ein kalter Nebelregen sprühte, klopfte donnernd an eine eiserne Tür und zog mich in die Garderobe hinein.
Es war ein winziger gewölbter Raum mit schmutzigen Wänden, ehemals wohl der Kartoffelkeller des zerstörten Hauses. An der Wand zwei Tische, zwei Spiegel darüber, zwei trübe elektrische Birnen. Ein Schrank in der Ecke. Die Bernhöven saß in einem kostbaren, am Kragen von Schminkspuren verfärbten alten Kimono vor dem Spiegel. Sie rieb sich gerade die letzten Spuren der Fettcreme vom Gesicht. Sie lächelte im Spiegel meinen Freund Rabner an und hob winkend die Hand, ohne sich umzudrehen. Ich wurde vorgestellt. Sie nickte mir im Spiegel zu. »Ein schönes Lied, das letzte«, sagte sie stolz und spöttisch, »eigene Anfertigung.« »Die Verse sind nicht besonders«, schrie Rabner, »höchstens die Musik ... aber die ist nicht von Ihnen.« Sie erhob sich, verbarg sich hinter den geöffneten Schranktüren, warf ihren Kimono ab und trat gleich darauf, den Kopf noch in der Halsöffnung eines schwarzen Tuchkleides, wieder auf uns zu.
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