Wir hatten wohl fünf Minuten friedlich miteinander geschwiegen. Sie aß ihr Käsebrot recht unachtsam, und ich rauchte vor mich hin. Dann bat ich sie, sie möchte mir nun endlich vorlesen. Aber sie lehnte das ab. Nein, sie könne es nicht. Aber vielleicht würde sie mir etwas schicken. Es seien auch erst hundert oder hundertzwanzig Seiten, Anfänge, Versuche, ein ewiges Ringen mit der Unehrlichkeit, mit der Beschönigung, mit den überlieferten Gefühlen, mit dem, was sein sollte und in der Tat nicht ist. »Was wirklich ist«, sagte ich, »das ist also der Titel.« »Der Arbeitstitel«, verbesserte sie mich, »wie man das bei schlechten Filmen sagt, wenn man nicht weiß, was man eigentlich ausdrücken will. Die Richtschnur oder, wenn Sie wollen, der Ariadnefaden im Labyrinth. Es ist soviel Unsinn über die Frauen zusammengeschrieben worden, und dieser Unsinn hat soviel Unheil angerichtet, und da dachte ich ... naja, da dachte ich eben ...«
»Sie dachten, Sie könnten den Frauen helfen, wenn Sie einmal schrieben, was wirklich ist.«
»Nein, das überlasse ich Ihnen«, lachte sie, »ich wollte mir selbst helfen. Eine männliche Münchhausenillusion – sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf holen. So einfach ist das nicht. Zunächst schlägt man um sich und sinkt immer hübsch weiter hinein.«
Sie schloß die Mappe auf. Da lagen vier große Briefumschläge, jeder beschriftet mit einem Kapiteltitel. Sie nahm zwei Umschläge heraus. »Sehen Sie ... das ist ordentlich der Reihe nach erzählt. Das Mutterhaus zum Beispiel. Ja, es war kein Vaterhaus. Mein Vater war mir fremd wie ein Fidschiinsulaner. Er war wohl auch so primitiv. Und hier haben Sie die Studienjahre. Erste Liebe inklusive. Ich hab’ sogar meinen Doktor gemacht. Summa cum laude. Zu meinem größten Erstaunen. Über Rilke natürlich. War damals so. Und hier ...« Sie packte die Umschläge plötzlich ärgerlich zusammen und schloß die Mappe. »Nein, das ist eben nicht richtig. Es geschieht gar nicht alles so hübsch und wohlgeordnet hintereinander. Oder doch nur im Anfang. Nachher – das finde ich so unheimlich –, nachher ist das Vergangene, das Gelebte, immer gegenwärtig. Oder ist es nicht so?«
Sie wischte sich über die Augen. »Ich bin sehr müde, lieber Freund«, sagte sie und erhob sich. »Wir müssen uns trennen. Schade. Es war schön mit Ihnen. Wie es eben immer schön ist, wenn man über sich selbst schwätzt.«
Sie zog sich ihren Mantel an und begleitete mich hinunter, das heißt, sie lief mir genau so voran, wie sie es beim Kommen getan hatte, um den Geiz des Hauswirtes zu überlisten. Draußen zog sie aus ihrem Mantel einen der großen Briefumschläge. Sie sagte: »Immerhin ... lesen Sie es. Es ist die Geschichte einer Jugendliebe. Von fernher gesehen. Und da dürfen Sie schon mitschauen.«
Damit umarmte sie mich herzlich und war gleich im Hause verschwunden. Ich sah noch, wie die Hausbeleuchtung ein paarmal an und aus ging. Sie war also immer noch dabei, den Geiz des Hauswirts zu überlisten.
Als ich nachher in einem kalten Hotelzimmer in meinem klammen Bett den Briefumschlag öffnete, fielen mir dreißig Blätter in Quartformat entgegen, schönes, glattes Friedenspapier, das sie mit einer exakten und schwungvollen Schrift vollgemalt hatte.
Ja, die Blätter waren eigentlich nicht beschrieben, sondern glichen eher kleinen Gemälden aus Schriftzeichen. Wie die Zeilen sehr genau voneinander abgesetzt waren, wie die Absätze gegeneinandergestellt, wie die Buchstaben mal aneinandergereiht waren, mal flüchtig auseinanderliefen ... das gab jeder Seite ein anderes, ein eigenwilliges Gesicht. Das reizte zum Lesen. Ich begann trotz meiner Müdigkeit gleich mit diesem Manuskript. Der Titel des Kapitels lautete:
»Jenaer Frühling 1920 – durch zwei Feuer gesehen«. Unerwarteterweise schrieb sie nicht in der Ichform, sondern in der allein epischen dritten Form. Das hatte ich am wenigsten erwartet.
Erstes Kapitel
Jenaer Frühling 1920 – durch zwei Feuer gesehen
Aufgezeichnet 1944
Eigentlich waren es drei Feuer, durch die die Frau hindurchsehen mußte, um den Jenaer Frühling 1920 zu erspähen und heranzurufen. Das erste Feuer brannte in dem kleinen Kanonenofen der Mansarde im Hause des pommerschen Bauern Mowranke. Der rote Schein aus den Ritzen flackerte zuweilen über das Gesicht eines achtjährigen Mädchens, das friedlich in dem breiten Bett in der Ecke schlief. Sonst lag das Kindergesicht im Dunkeln. Denn die Kerze auf dem Tisch war zum Bett hin mit einem dunkelblauen Papierschirm aus einem Heftdeckel abgeschirmt. Die Frau, die an dem birkenen polierten kleinen Tischchen saß, hieß damals Lucia von Tweeren. Sie war – man schrieb den 26. Januar 1944 – fast 44 Jahre alt. Ihr Alter wuchs genau so wie dieses elende Jahrhundert. An jedem Tag, an dem sie ein Datum über einen Brief setzte, schrieb sie zugleich auf, wie alt sie war.
Sie saß in einem wattierten hellblauen Morgenrock, der an der unteren Kante Brandspuren und Brandlöcher zeigte. Sie saß auf einem hölzernen Küchenstuhl, dessen Lehne ein Herz hatte von der gleichen Form und Größe, wie sie die Lokustür hinten im Garten schmückte. Da sie damals sehr mager war, hatte sie sich ein großes Kissen untergelegt, dessen Ränder gleichfalls angesengt waren. So wurde sie denn im Schreiben, wenn sie herabsah (und sie dachte immer mit gesenktem Kopf nach), an das zweite Feuer erinnert, durch das sie in die Vergangenheit blickte.
Es war das Feuer in der Nacht vom 22. zum 23. November 1943 in Berlin. Sie hörte jetzt das Knistern und Krachen im Dachgebälk des Hauses in der Ansbacher Straße. Sie sah sich hustend im Rauch stehen. Die Fenster klirrten und zersprangen von der Hitze. Es war taghell. Denn auch drüben die Häuser und jenseits die Häuser brannten.
Lucia warf sinnlos, wahllos ein paar Sachen hinaus, Bücher z. B. Aber die geliebtesten Bücher ließen sich nicht finden. Das Kissen, auf dem sie jetzt saß, den Hausrock, der sie jetzt umhüllte, drei Männeranzüge (ich muß doch was für Rüdiger retten), Schuhe, eine Puppe (Püppi genannt, ein häßliches, zerzaustes Bündelchen). Das Bild, das Theo Grain von ihr gemalt hatte, junges Mädchen auf einer Veranda, riß sie von der Wand und warf es dann achtlos ins Zimmer zurück. Bettine mußte doch Kleider haben. Nein – die nicht rauswerfen, unter den Arm damit! Unter den anderen den Silberkasten mit dem Wappen der Tweerens. Den Leuchter noch, den peltzerischen Leuchter von der Mutter.
Und nun hinunter! Unerträglich der Rauch im Treppenhaus. Das hölzerne Geländer brannte schon. Ein Wahnsinn, wegen der paar Sachen zu verbrennen und Bettine unten allein zu lassen! Frau Querke, die Hausmeisterin, würde ja auch nur an ihre Sachen denken und das Kind, mein Himmel, das Kind! Sie rannte die Treppen hinunter, indem sie sich gegen die Wand drängte, damit das Feuer des Geländers sie nicht faßte. Im zweiten Stock sperrten Möbel den Weg. Diese Wahnsinnigen! Sie würden auf ihren Kommoden verbrennen. Aber Lucia hatte viel Kraft, wenn’s darauf ankam. (Ja, nur, wenn’s darauf ankam!) Wütend, schimpfend überkletterte sie die Hindernisse. Jetzt war die Treppe frei. Nur ein paar Menschen rannten auf und ab. Sie trugen läppische Wassereimer und Sandtüten, um das Feuer zu löschen, oder sie schleppten Stehlampen mit riesigen Papierschirmen hinab, Vogelkäfige, goldgerahmte Bilder. Eine Bande von kindischen Verrückten. Und Lucia von Tweeren, kindisch verrückt, zwischen ihnen. Endlich kam sie auf die Straße. Kein Wind mehr. Die Häuser brannten hell und feierlich. Die Dachbalken krachten, wie wenn ein Riesenhund sie mit seinen Kiefern zermalmte. Sie schrie nach Bettine, der Tochter. Ein dünnes, vergnügtes Stimmchen antwortete. Auf einem breiten, schäbigen Sessel saß sie, die verschmutzte, die verdreckte Puppe im Arm. Über den Kinderschultern den Hausrock, unter dem anderen Ärmchen das Kissen und einen verdreckten Band Rilke: ‚Von der Armut und vom Tode‘. »Püppi ist gerettet«, sagte Bettine wichtig, »und Papis Anzüge hat ein Herr aufgehoben.«
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