Während sie heraustauchte, das Kleid zurechtzog und an dem widerspenstigen Reißverschluß zerrte, sagte sie: »Ja ... die Musik ist schon gut. Aber mein Lied ist schön. Wenigstens heute.« Sie wandte sich mit einem verschmitzten Lächeln erklärend an mich: »Vielleicht ist es eine vergängliche Schönheit. Und morgen gilt ganz etwas anderes, was Unechteres, glaube ich.« Und wieder zu Rabner: »Ich sollte bald mal was Liebliches singen, was frisch Parfümiertes. Was meinen Sie, Rabner? – Sanfte Tränen, in seidene Tücher hineingeweint.« Rabner lachte dröhnend: »Tränen wird man Ihnen kaum abnehmen, Eure Lieblichkeit. Und woher seidene Tücher in dieser lumpigen Zeit.« Sie sah mit einem schrägen, fixen Blick zu ihm hinüber. Dann sagte sie merkwürdig hart: »Ja ... woher die Tücher? Das weiß ich auch nicht.« Und indem sie uns beide unterhakte, etwas burschikos: »Gehen wir noch einen trinken. Ich hab’ was Gutes auf meiner Bude.« Rabner entschuldigte sich wortreich. Er hätte Nachtdienst. »Gut«, sagte sie höchst natürlich, »wenn es Sie nicht langweilt, kommen Sie noch auf einen Schluck zu mir hinauf.«
Ich war über diese unerwartete Einladung etwas überrascht. Sie merkte es und sagte lachend: »Wir können auch in irgendein ungemütliches Lokal gehen und alkoholfreies Bier trinken. Aber bei mir ist es angenehmer. Ich möchte noch was reden. Einerlei, mit wem.« Nach dieser Unliebenswürdigkeit mochte ich nicht ablehnen, und so wanderten wir schweigend durch ein paar Trümmerstraßen. Immer noch sprühte der leise, durchdringende Nieselregen. Aber der Mond stand hinter den Wolken und verbreitete eine sanfte Dämmerung, in der die Ruinen geglättet schienen und fast wie eine romantische Burglandschaft die Straßen begleiteten.
Die Pension, in der die Bernhöven wohnte, lag in einem ehemaligen Hinterhaus. Das Vorderhaus war von Bomben zerstört, und so sah man schon die Lichter blinken, während wir den von aufgestapelten Ziegeln begleiteten Weg gingen. Ein mit Mauerbrocken gefüllter Springbrunnen, über dem unverletzt eine fischschwänzige Seejungfrau thronte, erinnerte daran, daß hier mal ein hochherrschaftliches Haus nach dem Bürgergeschmack der neunziger Jahre gestanden haben mußte. »Nett ... nicht wahr?« lächelte die Bernhöven. »Diese Böcklinzeiten, in denen Fischleiber und Fischweiber die Gefährlichkeit der Natur symbolisierten. Möchten Sie da gelebt haben? Ich vielleicht.« Sie schloß das Haus auf, knipste die Treppenbeleuchtung an und lief wieselflink die Treppen hinauf. Dabei rief sie: »Sie dürfen langsam nachkommen. Ich mache nur einen Wettlauf mit dem Geiz des Hauswirtes. Dreißig Sekunden hat man nur für jede Treppe. Sonst steht man im Dunkeln.« Tatsächlich erlosch gerade das Licht, wurde gleich wieder angesteckt, und ich hörte die eiligen, schlanken Schritte schon wieder die nächsten Treppen hinauflaufen. So geschah es noch dreimal, bis ich die Atemlose oben im vierten Stock einholte. »Gesiegt«, pustete sie befriedigt und schwang ihr Schlüsselbund. »Schneller als der Geiz ist der Ehrgeiz.«
Drinnen wurden wir von der weißhaarigen Pensionsinhaberin freundlich begrüßt. Frau Bernhöven stellte sie als »Mammi« Trömner vor. Sie war eine zierlich-betuliche alte Dame, deren Humor in vielen kleinen Fältchen um die Augenwinkel nistete. »Nett von Ihnen, daß Sie meiner Lucia noch ein bißchen Gesellschaft leisten«, sagte sie zu mir, »ich werde Euch noch einen Kaffee kochen.«
Das Zimmer war ein ziemlich kleines, mit Möbeln vollgestelltes Viereck. Zwei häßliche Sessel standen drin, mit schäbigem Blumenmusterüberzug, ein zierlicher Biedermeierschrank mit halb abgeblättertem Furnier. Über dem Waschtisch hing ein Empirespiegel mit trübem, wassergrünem Glas. Ein pompöses Bett, sichtlich die Hälfte eines ehelichen Schlafzimmers aus der Gründerzeit, nahm ein Drittel des Zimmers ein. Schräg vor den Fenstern stand ein rohgezimmerter Tannentisch. Eine Vase darauf mit einem üppigen Strauß gelber Rosen, ein paar Bücher dazu, eine Schreibmappe und einige Fotografien in Standrähmchen. Das Ganze war ebenso geschmacklos wie gemütlich. Zudem bullerte und knackte in dem runden Kanonenofen neben der Tür ein lustiges Feuer.
Aus einer hochgestellten Kiste, die durch ein paar Fächer und einen bunten Vorhang zu einem Schränkchen befördert war, holte Lucia drei Gläser und eine fast volle Ginflasche heraus. Sie schenkte ein, schob mir Zigaretten zu – nein, sie selbst rauche nicht, das sei eine überwundene Jugendsünde, und das bißchen Stimme wolle auch geschont sein –, prostete mir zu, trank das Glas in einem Zuge leer, schenkte sich neu ein und trank es wieder aus. Sie lachte: »Keine Angst ... ich trinke schnell, aber wenig. Ich muß immer fix einen Vorhang ziehen zwischen unserem Keller ... na, und dem übrigen. Zehn Minuten Arbeit am Tag. Und davon kann man leben. Ulkig, nicht wahr?«
»Und was machen Sie mit den übrigen dreiundzwanzig Stunden und fünfzig Minuten?« fragte ich. Sie lehnte sich in ihren Sessel zurück. Ein Schatten floh über ihr Gesicht, schnell, wie der Schatten einer Wolke über eine blumige, windbewegte Bergwiese streift. Ich sah, daß sie ein bewegtes, naturnahes Gesicht hatte, in dem sich wetterhaft und wetterwechselnd ihre Gefühle spiegelten und es ständig und jäh veränderten.
Sie hatte ziemlich lange geschwiegen. »Ja, die übrigen dreiundzwanzig Stunden«, sagte sie jetzt zögernd, »es sind übrigens nur zweiundzwanzig. Denn ich muß ja hin und her gehen, mich schminken und abschminken, ein bißchen proben, ein bißchen mit den Kollegen schwätzen. Und dann gehen vier oder fünf Stunden für den Schlaf ab ... nein, mehr nicht. Ich schlafe so rasend tief und so vollkommen bewußtlos, daß ich nicht mehr brauche. Mehr wäre schade. Und eine Stunde brauch’ ich zum Briefschreiben, eine halbe zum Essen ... bleiben ... haben Sie mitgerechnet? ... fünfzehneinhalb Stunden zu beliebiger Verwendung.«
Ich proteste ihr zu. Sie verneigte sich anmutig. Aber sie trank nicht mehr. »Schenken Sie mir fünf von Ihren überflüssigen Stunden«, sagte ich, »ich könnte sie verdammt gut brauchen, und für die übrigen Stunden würden sich auch noch genug Bedürftige finden.« Sie wiegte den schönen Kopf bedauernd: »Sie enttäuschen mich. Ich hab’ mal was von Ihnen gelesen, so was Trocken-Weises, daß ein anständiger Mensch für alle schönen Dinge des Lebens Zeit haben müsse. War also Theorie, wie alle Weisheiten, und Sie gehören zu den Überarbeiteten und Überlasteten, die aus der Hetze so ’ne Art neue Moral machen. Und außerdem sich vom vollgeschriebenen Terminkalender die Entschuldigungszettel abreißen für ihre Herzenssünden.«
»Hübsch gesagt«, lachte ich. Und sie erwiderte recht ärgerlich: »Hübsch gesagt. Nett formuliert, nicht wahr? Ich will aber gar nichts Hübsches sagen. Ich will die Wahrheit sagen, daß Sie es nur wissen. Das, was wirklich ist. Nicht mehr, nicht weniger.« »Da haben Sie sich allerhand vorgenommen«, spottete ich, »das möchten wir nämlich alle. Mindestens jeder, der schreibt. Aber wir kriegen es nicht raus, was wirklich ist.«
»Warum nicht?« fragte sie heftig und trommelte mit den Fäusten auf die alten Sessellehnen, daß der Staub von vielen Jahren herausstob. »Warum denn nicht? Wir sind bloß feige.«
In diesem Augenblick kam Mammi Trömner herein. Sie kam, ohne anzuklopfen, indem sie einfach mit dem Ellenbogen die Türklinke herunterdrückte und die Tür dann mit dem Absatz krachend zustieß. Sie trug das Tablett mit dem Kaffeegeschirr, mit einem Bleikristallschälchen, in dem Kekse lagen, mit einem Käsebrot, das, wie sie streng sagte, nur und allein für »unsere« Lucia bestimmt und unteilbar sei. Sie kramte mit kleinen heiteren Bemerkungen über die Freuden und die Sorgen, die ihr Lucia bereitete, das Geschirr auf den Tisch, zwei Tassen nur. Sie selbst wolle keinen Kaffee, weil sie sonst Herzklopfen kriegen würde. Herzklopfen sei nur für junge Leute ein Genuß, für alte lediglich ein »unbehagliches Gelärme«. Aber einen Gin nahm sie gern. Sie setzte sich, das Glas in der Hand, auf das Bett und schlürfte den Schnaps mit kleinen, genießerischen Schlucken. Dabei schwätzte sie etwas monoton, aber mit dem Charme, den manche alte Damen besitzen, die wenig erlebt, aber viel gelesen haben und begeisterte Zuschauer des Lebenstheaters geworden sind. »Ist sie nicht eine große Künstlerin, unsere Lucia?« rief sie, »was sie da aus diesem Lied macht. Herrlich! Und gedichtet hat sie es auch. Aber sie müßte natürlich ganz was anderes tun.«
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