Es mochte gegen drei Uhr morgens sein, als es an Hemmsteets Tür klopfte. Er hörte es wohl im Halbschlaf, konnte aber nicht antworten und wachte erst auf, als eine Hand nach ihm griff und ihn schüttelte.
„Bitte, wachen Sie auf!“ flüsterte Anna Favetti. „Sie müssen mir helfen.“ Sie hatte ihr Skikostüm an, die halblangen Haare trug sie offen. Ihre Augen waren müde, ihr Gesicht voll Angst und Bitterkeit. „Ich möchte Sie bitten, mir zu helfen“, sagte sie. „Stehen Sie auf, schnell!“
„Ihr Vater“, antwortete Hemmsteet, „er ging vorhin weg. Hätte ich ihn aufhalten sollen?“
Anna war schon aus dem Zimmer gegangen. Fünf Minuten später tastete Hemmsteet durch das dunkle Haus. Draußen wartete Anna Favetti schon auf Skiern. Sie hatte zwei große Laternen bei sich. Eine mußte Hemmsteet umhängen, eine nahm sie.
Es schneite immer noch. „Seit zehn Jahren“, sagte Anna, „hat es nicht mehr so geschneit. Der Schnee wird noch bis ans Dach wachsen und durch die Fenster hereinwehen wie damals.“
Ihre Stimme klang eher ungeduldig als unglücklich. Sie stand unschlüssig. Man sah nur noch eine schwache Spur der Skier Favettis. Bis Sonnenaufgang waren es fünf Stunden. Hatte es irgendeinen Sinn, in die Schneewüste hinauszuwandern?
Die beiden fuhren langsam an der Spur entlang. Sie zeigte zunächst scharf südlich, überquerte dann den See. „Er ist doch wieder nach Maloja hinüber“, nickte Anna, „es war ja klar.“
„Wieso war es klar?“ fragte Hemmsteet. Es machte ihn etwas ungeduldig, daß sie so viel voraus zu wissen schien und doch wohl nichts verhindern konnte.
Anna antwortete nicht. Sie sah ihren Begleiter erstaunt von der Seite an. Warum ärgerte er sich? „Es tut mir leid, daß ich Sie aus dem Bett geholt habe“, sagte sie. „Nach Maloja hinüber konnte ich auch allein fahren. Aber ich dachte, er würde diesmal auf den Berg hinaufgehen. Gian hat damals diese Volte geschlagen, um uns irrezuführen. Und bei Schneefall ist es da oben gefährlich.“
Sie liefen eine Zeitlang schweigend nebeneinander her. Sie hatten die Laternen gelöscht und konnten sich schon ganz gut erkennen, so sehr hatten sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt. Der Weg führte über einen sanften Hang. Ein paar spärliche Lichter tauchten auf, ein paar Gestalten vor dunklen Häusern: Maloja.
Gleich darauf machte Anna halt. „Hier herunter geht der Weg nach Italien“, sagte sie. „Sie kennen die Chaussee. Wir schnallen besser ab.“
Sie gingen vorsichtig, die Laternen voran, weiter. Die Spur war hier ganz deutlich. Favetti war bis dicht an den Abgrund herangefahren. Sie leuchteten hinunter. Keine Spur eines Absturzes.
„Er hat hier gestanden wie immer“, sagte Anna. „Im Sommer fährt er an jedem Abend mit dem Rad hierher, um nach Italien hinunterzusehen. So hat er auch heute nacht hier gesessen. Sehen Sie? Hier. Und hier ist er wieder zurückgefahren. Kommen Sie! Hier.“
Auf der Straße in Maloja verloren sie die Spur. Sie fragten in einer Kneipe nach Favetti. Ja, er hatte gerufen wie immer. Man hatte beobachtet, daß er umkehrte und, vom Hunde begleitet, wieder den Weg nach Sils einschlug. Es blieb also nichts übrig, als zurückzufahren.
Sie stiegen einen Hügel hinauf. Der Wind pfiff ihnen ins Gesicht, schlug ihnen die Schneeflocken in die Augen. „Ist das alles um Ihren Bruder, den verschollenen Gian?“ rief Hemmsteet einmal. Und Anna rief zurück: „Ja ... alles um den Toten.“ „Wissen Sie genau, daß er tot ist?“ fragte Hemmsteet nach einer Weile. Er mußte lange auf Antwort warten. Nein, ganz genau wußte es Anna nicht. Sie hatte nur in zehn Jahren, in über viertausend Tagen und Nächten allmählich die Gewißheit bekommen, daß es unrecht war, drei Leben hinter einem herzuschicken. Dann war es schon besser, den einen endgültig aufzugeben, einerlei, ob er am Leben oder im Tode war.
Sie machten gerade hinter einem winzigen Hügel halt. Sie wischten sich den Schnee von den starren Gesichtern. Sie atmeten in der Windstille ein wenig auf. Immer noch fiel der Schnee eilig. Wenn man Licht machte, sah man ihn geradezu in Bündeln durch den Lichtkegel stürzen. Zwischen Anna Favettis Gesicht und dem Hemmsteets fiel es wie ein Schleier.
Hemmsteet versuchte weiter. Aller Wahrscheinlichkeit nach müsse Gian tot sein. Aber er scheue sich, jemanden zum Tode zu verurteilen, der vielleicht dennoch unter den Lebenden weilte.
Anna sah ihren Begleiter prüfend an. „Schließlich“, sagte sie ruhig, „muß man jeden begraben, der nicht wiederkommt.“
Ob es an jedem Tag so ging wie an diesem? forschte Hemmsteet.
Nein, es gab ruhige Zeiten und unsichere. Diese Woche, in der der Italiener aufgetaucht war, in der er sich des jungen Gian bemächtigte, in der er mit ihm fortging, war die schlimmste. Auch das Befinden des Vaters wechselte sehr. In diesen langen Nächten wurde sein Herz immer schwach. Er fiel leicht in Ohnmacht. Dreimal hatte sie ihn schon ohne Besinnung im Schnee gefunden. Jedesmal hatte sie das Gefühl, daß er den Tod gesucht hatte.
Hemmsteet wollte fragen, warum man denn den Alten nicht einfach gehen ließ. Aber Anna beantwortete die ungefragte Frage: „Schließlich ist sein Leben ja doch schön. Immer sieht er den Jungen wiederkommen, und es bleibt ihm die Gewißheit, daß er ihn eines Tages in den Armen halten wird.“
Gleich danach brachen sie wieder auf. Sie sprachen nichts mehr. Sie waren beide bei dem alten Favetti, der im Schneesturm aufgebrochen war, seinen Sohn zu suchen. Hemmsteet glaubte mit Sicherheit zu wissen, daß der Alte diesmal den Tod gefunden hatte.
Aber er täuschte sich. Als sie nach drei Stunden vergeblicher Suche in die Tannenallee zum Hause einbogen, leuchteten alle Fenster. Der Hund Lio raste ihnen bellend entgegen, und aus dem Hause trat Favetti, frisch und so heiter, wie ihn Hemmsteet noch nicht gesehen hatte. Es war wie nach einem Anfall.
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