Wolffenau unterbrach ärgerlich seine sinnlosen Betrachtungen. Warum beschäftigte er sich mit dem Schicksal dieser Frau? Nur weil sie seinen Rucksack als Kopfkissen benutzte? Er mußte ihr zudem die Kopfstütze jetzt wegziehn. Denn er wollte gehn. Er hatte genug von diesem Warten. Es wurde Zeit, sich aus dem Haufen der Elenden zu lösen. Gerade hörte er, wie ein Bahnbeamter erzählte, daß vorläufig an einen Zug nicht zu denken sei. Also weg! Den Rucksack genommen ... Statt dessen zog er sein Notizbuch und schrieb auf einen Zettel: „Sie schliefen so schön. Da konnte ich Ihnen das Kopfkissen nicht wegnehmen. Nehmen Sie den Rucksack als Geschenk eines unbekannten Verehrers, als eine kleine Ermunterung des Himmels. Die Sachen werden Ihnen sicher passen und bis auf das kirschrote Complet sogar gut stehn. Alles Gute.“
Dann nahm er seinen Koffer, stieg die Stufen hinab, kletterte über ein Gewirr von Beinen, Koffern, Kisten auf den Ausgang des Bahnhofes zu.
Draußen regnete es immer noch. Eigentlich, so dachte er, hätte ich lieber den Rucksack mitnehmen sollen und ihr Gerties Sachen in den Koffer einpacken. Denn so ein Koffer trägt sich viel unbequemer. Dann aber fiel ihm ein, was Gertie gesagt haben würde: „Mensch, Paul, sei manchmal ein Kavalier.“
So wandte er sich denn ganz befriedigt und bestieg eine Straßenbahn, die ihn an die Peripherie der Stadt bringen sollte. Was dann? Das war so ungewiß, wie es ungewiß war, wann je ein Zug diesen Bahnhof der Verdammten verlassen würde.
Das Schloß der Mossignys, 1530 gebaut und gegen die räuberischen Banden des Dreißigjährigen Krieges mit einem breiten Graben und einer Wehrmauer aus Felssteinen geschützt, liegt auf einer kleinen Anhöhe über dem Fluß, der sich schon fächerförmig in fünf Flußarme teilt, um ein paar Kilometer weiter sich ins Meer zu ergießen. Es ist ein nicht gerade schöner Bau, massig und trutzig im altdeutschen Sinn, mit einem breiten Quaderturm an der einen Seite, von dem aus man an hellen Tagen das Meer sehen kann. Von diesem Turm aus erschoß ein Graf Eckeholm — die Mossignys erbten das Schloß erst 1850, da ein Mossigny die letzte Eckeholm geheiratet hatte — im Dreißigjährigen Krieg einen schwedischen Hauptmann, der mit Plünderern eingedrungen war, und wurde vom Turm geworfen. Von der Plattform stürzte sich um 1730 eine Eckeholm, weil ihr Liebhaber in einem Duell mit ihrem Mann gefallen war. Hier oben versammelten sich nach 1864 beim Vater des jetzigen Mossigny die Großgrundbesitzer der Umgebung, die „Eiderdänen“, die durch den Wiener Frieden zu Mußpreußen geworden waren, in nächtlichen Gelagen und wetterten in kräftigen Trinksprüchen gegen den Herrn von Bismarck und den preußischen Zwangsherrn. Hier oben spielte zu Anfang des 20. Jahrhunderts der Inspektorsohn mit den Dorfjungen Räuber und Piraten, wenn die Mossignys auf ihren monatelangen Reisen in Paris waren oder an der Riviera, in London oder in Kairo. Sie drehten dann drohend das alte Fernrohr, das ein Geschütz vorzustellen hatte, und jagten mit Katapulten, in die sie Rehposten einlegten, die Hühner, die verbotenerweise im Rosengarten vor der Schloßterrasse scharrten.
Hier spielte auch um die Jahrhundertwende Christa Mossigny, die einzige Tochter, mit ihrer Riesenpuppe Betsebel oder mit Frieda Rothart, der Försterstochter, die, rotbackig, gesund und beflissen, sich kommandieren und schurigeln ließ.
Hier gab es in derselben Zeit an den sehr seltenen heißen Tagen die sogenannten Aussichtstees der alten Gräfin Mossigny, zu denen ein Dutzend alte, vornehme Damen erschienen, keuchend von den achtzig Stufen, aber stolz, zugelassen zu sein. Die Tees waren so langweilig wie die „Kreuzzeitung“, aus der die Damen ihre Hofnachrichten sogen, die Trauungen und Geburten unter den Standesgemäßen, die Beförderungen und Auszeichnungen, um sie nun wieder von sich zu geben. Neuigkeiten, die alle schon kannten.
Später schloß man die Turmtür zu, und in den aufgeregten Zeiten zwischen den beiden Kriegen betrat niemand mehr den Söller. Sonne, Regen und Schnee gingen drüber weg. Das alte Fernrohr rostete völlig ein, zwei rote Gartenstühle, die man oben vergessen hatte, verloren ihre Farbe, vermorschten und fielen zusammen. Im letzten Krieg wurde eine Flugmeldestation auf dem Turm eingerichtet. Davon war eine Bretterbude, mit Dachpappe überzogen, zurückgeblieben.
Jetzt aber, an diesem heißen Augusttage des Jahres 1945, stand in kurzen Hosen und nackten Knien, das schneeweiße Hemd aufgeknöpft, braungebrannt und pfeifend Captain Kelley auf dem Turm, der Adjutant des englischen Generals, der sein Hauptquartier im Schloß Mossigny aufgeschlagen hatte. Kelley hatte eine Ölkanne in der Hand und ölte eifrig das alte Fernrohr. Kreischend und unwillig bewegte es sich jetzt. Langsam konnte man es auf das Meer richten. Drei, vier Fischerboote standen mit weißen Segeln auf der Wasserfläche. Sonst war nichts Bemerkenswertes zu entdecken. Kelley ölte von neuem, schraubte. Jetzt ließ sich das Fernrohr auch etwas seitlich bewegen. Er sah hindurch. Ein Motorradfahrer überquerte schnurrend, die Befehlstasche umgehängt, den sonnigen Hof. Weiter: ein paar deutsche Kriegsgefangene beschnitten die Tannenhecke. Sie arbeiteten bedachtsam und gemütlich. Weiter: die Feldsteinmauer, auf der eine Ziege angepflöckt war, um die Gräser abzuweiden, der Graben, wieder eine Hecke und dahinter ein kleinerer sonniger Platz vor dem Inspektorhaus. Dort lehnte nun der alte Mossigny, ein Seidenkäppchen auf dem kahlen Schädel, die Sonnenbrille auf der Nase, in einem Gartenstuhl, und vor ihm saß seine Tochter, eine etwa sechzigjährige Dame in einem hellen Sommerkleid. Kelley, der ein wenig Deutsch verstand, wußte, daß die Leute hier sie die „junge Komteß“ nannten. Nun — gegen den siebenundachtzigjährigen Mossigny war sie ja noch jung. In Wirklichkeit war sie nicht jünger als Kelleys Tante Jessie aus Liverpool, die niemand „die junge Kelley“ genannt haben würde. Sie war auch keine Komtesse, sondern hieß Frau Christa Wolffenau. Warum man sie also die junge Komtesse nannte, begriff Kelley nicht. Dafür verstand er wieder nicht genug Deutsch. Außerdem interessierte es ihn auch gar nicht. Langsam hob er wieder das Fernrohr. Es kreischte noch immer entsetzlich. Er beschloß, es acht Tage lang täglich zu ölen, falls man so lange hier blieb.
Noch auf zehn Schritt Entfernung konnte man den alten Mossigny für sechzig oder siebzig Jahre halten. Er lag bequem, lässig die Beine übereinandergeschlagen, gekleidet in einen schneeweißen Anzug, mit einem scharfgebundenen dunkelblauen Schmetterlingsschlips. Aber wenn man näher kam, sah man, daß das Gesicht verwittert war, durchzogen von unendlich vielen kleinen Fältchen. Seine Tochter, Frau Christa Wolffenau, die Frau des Ruhrindustriellen Paul Wolffenau, den sein Sohn respektlos Paul den Ersten nannte, konnte immer noch für eine schöne Frau gelten. Ihr Haar war bis vor kurzem mit Hilfe guter Friseure tiefschwarz gewesen. Jetzt, da bei dem Friseur der Kreisstadt das Noirin ausgegangen war, ergraute es von den Wurzeln her, was Frau Wolffenau an jedem Morgen zu vielen Seufzern über die entsetzlichen Nachkriegsentbehrungen veranlaßte.
Sie war im übrigen sehr gepflegt. Das hellblaue Sommerkleid war frisch gebügelt. Sie trug dünne weiße Seidenstrümpfe und lackrote durchbrochene Schuhe. Ihr Gesicht, gut geschnitten und etwas kantig, wurde von einer zu großen Nase beherrscht, die sie vom alten Mossigny geerbt hatte.
Der Alte hielt in der herabhängenden Rechten einen Brief, und jetzt begann er mit seiner leisen und trotzdem krähenden Stimme zu sprechen. „Er ist und bleibt hartnäckig, dein Gatte“, sagte er höhnisch, „aber — das ist nun einmal eine Grundeigenschaft der Herren von der weltumspannenden Industrie — er sieht die Wirklichkeit immer noch nicht.“ Er schob einen Augenblick die schwarze Brille auf die Stirn und sah seine Tochter mit funkelnden Fuchsaugen prüfend an.
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