Am 12. Oktober 1927, nachmittags halb sechs Uhr, kommt Käthe Besser an Drübbeckes Arm die St. Pauli-Landungsbrücke herauf. Es ist warm, leicht nebelig und schon etwas dämmerig. Käthe küßt den Matrosen und geht eiligst am Ufer entlang nach der Stadt zu.
Brenkenott, ein gutangezogener Herr, der hier herumspaziert, eigentlich nur, um ein wenig die ausländische Luft der fremden Dampfer zu atmen, an der Geschäftigkeit den eigenen Müßiggang zu ermessen und natürlich auch, um nach jenem Compagnon zu suchen, den er für seine nächtlichen Arbeiten braucht, Brenkenott folgt ihr in zwei Meter Entfernung. Er ist entzückt, wie lautlos und federnd sie geht. Aber er wartet, bis man in die Gegend der Schaufenster kommt, aus deren Spiegelscheiben ihm ein junges bronzebraunes Mädchen entgegengeht, das nun doch immer unsicherer wird, hilflos Straßenschilder liest, die außer ihrem Namen nichts verraten, und in einem Augenblick der Schwäche an einem elektrischen Mast Stütze sucht.
Brenkenott zieht höflich den Hut — es zeigt sich, daß seine Haare auch schon licht werden und an den Schläfen grau —, er reicht ihr den Arm. Sie besteigen ein Auto. Zehn Minuten später verlangt Brenkenott im Atlantic für seine weinende Verwandte ein Zimmer neben seinem.
Nachdem es einmal mit Weinen, Baden, Schlafen angefangen hat, braucht Käthe acht Tage, um wieder in Ordnung zu kommen. Brenkenott läßt ihr Zeit. Das Notwendigste kauft er allein und zeigt eine Neigung zu extravaganter Unauffälligkeit in der Kleidung. Er kennt ihre Maße, ohne zu fragen. Kein Stück, das nicht sitzt. Nachher begleitet Käthe ihn. Er ist aufmerksam, sachlich, etwas zu kühl. Sieht er nicht, wie sie immer schöner wird, wie sie mit jedem neuen Kleid aufblüht, wie sie sich den Kopf zerbricht, warum sie sich bei ihm so wohlfühlt. Einmal streichelt sie sein Windhundsgesicht und den kleinen Schnurrbart. Langsam muß sie ihn zu sich hinunterziehen, und die Angst bleibt, daß er immer nur lächeln wird. Hat er keine Gefühle? Wo steckt sein Ernst? Was ist sein Beruf? Eines Abends unten im Speisesaal verrät er es: „Ich bin ein Hoteldieb,“ sagt er, „ein Einbrecher im Straßenanzug.“
Er sieht sie gespannt an. Sie trinkt ihm zu. Sie muß rasend schnell denken. Dieb — Dieb — Dieb, denkt sie. Es tut einen Augenblick weh. In einer Ecke hatte sie also doch gehofft, es könnte ihr Schicksal sein, ruhig unter den Reichen zu wohnen. „Gut,“ sagte sie dann, „gut.“
Noch in der gleichen Nacht steigt sie in das Nachbarzimmer. Brenkenott hat ihr einen Strick um die Hüfte gebunden. Wie auf der Palme klettert es sich an der Mauer. Warm, kalt, warm. Lautlos steht sie im fremden Zimmer. Ein alter Mann schnarcht. Die kleine zierliche Hand tastet. Die Brieftasche liegt dickbauchig auf dem Nachttisch. Der Strick strafft sich. Sie ist wieder bei Brenkenott. Es hat sich gelohnt. Sie öffnet die Brieftasche. Das Bild einer fetten, alten Dame fällt heraus. Schein steckt bei Schein. Mit einem Ruck zieht sie einen heraus, hält ihn zum Fenster hinaus. Der Wind reißt ihn weg. Das Leben scheint ihr rund und, einerlei, was noch kommen wird, schön, zu leben.
Anmerkung des Erzählers.
Hiermit steht die Niederschrift des Lebens unserer Diebin am gleichen Punkt wie dieses Leben selbst: nämlich in der Gegenwart. Es durch Prophezeien oder Ausdeuten zu überholen, ist nicht unsere Aufgabe. Was sich nicht aus den uns bekannten Tatsachen dieses Schicksals ergibt, kann im Dunkel bleiben.
Es handelt sich nämlich weder um die Probleme Käthe Bessers noch darum, ob ihr Leben gut oder schlecht ist, gut oder schlecht ausgeht, sondern einzig und allein um dieses Leben selbst, wie es in jedem Geschehen weitergeht und weiter wird.
Schicksal eines Bankbeamtenpaares
Seit dem Jahre 1911 bewohnte der Bankbeamte Melchior Lange eine Vierzimmerwohnung in der grauen und lauten Hamburger Straße in Altona. Er hatte von seinem Vater, dem Oberpfarrer Lange, außer dem seltenen Vornamen ein kleines Vermögen geerbt, dessen Zinsen für die angenehmen Überflüssigkeiten des Lebens draufgehen durften, weil das Einkommen für die Notwendigkeiten ausreichte.
In den Krieg zog Lange als Leutnant der Reserve. Heraus kam er als Hauptmann und Bataillonsführer, Ritter hoher Orden. Er gewöhnte sich nur schwer in das bürgerliche Leben zurück. Die Revolution und die Bank waren ihm gleich zuwider. Er versuchte, den Krieg zu verlängern, indem er gegen die Münchener und Bremer Räte zu Felde zog. Aber dann mußte er den Beruf wieder aufnehmen, und bald tat er dasselbe wie bis 1914: er verrichtete seine Arbeit und lebte in seiner Freizeit.
Die alten Klubs traten wieder in ihre Rechte, der Segelklub machte den stattlichen Hauptmann a. D. zum ersten Vorsitzenden. Im Tennis- und im Hockeyklub wurde er seines Zivilberufes wegen Kassierer. Die Inflation setzte nämlich langsam ein. Die Klubvermögen schmolzen zusammen. Man brauchte sachverständige Finanzverwalter. Lange verstand nicht allzuviel von Wirtschaftszusammenhängen. Er verfocht z. B. bis zum Schluß die Möglichkeit der Markzurückwertung, und so kam es, daß er zwar die Gelder des Klubs auf Drängen der Gesamtvorstände einigermaßen wertbeständig anlegte, sein eigenes Vermögen aber in Mark liegen ließ.
Kurz bevor der Nullpunkt erreicht war — im Januar 1923 — heiratete Melchior Lange ein Fräulein Rosa von Zwink, die einzige Tochter seines verstorbenen Regimentskommandeurs, eine sommersprossige Blondine, die beim Lachen wie ein Chinese, beim Weinen wie eine Nonne aussah und nur in großer Gesellschaftstoilette, mit Korsett und hochgestelltem Busen, wie eine Offizierstochter.
Rosa brachte in die Ehe das Mahagonischlafzimmer ihrer Eltern mit, eine Anzahl von Hirschgeweihen mit Schießdaten und eine Sammlung von alten Schwertern, Lanzen und Pistolen, die der Wohnung ein martialisches Aussehen verliehen. Sie sah im ersten Jahre der Ehe zu ihrem Mann auf, fand sein in Würdefalten zementiertes Gesicht anziehend und seine dicke Oberlippe mit dem Strohschnurrbart „ulkig und lieb“. Das polterig-schneidige Auftreten hielt sie für ein männliches Geschlechtsmerkmal.
Sie war ein paar Monate ganz zufrieden. Dann kamen ihr Zweifel. Sie dachte nach, verglich. Scheinbar hatte sie doch nicht das große Los gewonnen. Zum mindesten spürte man beim Zusammenleben nichts von Liebe. Später kamen größere Sorgen. Die Zahlen wuchsen zu Bergen, schrumpften plötzlich von einem Tag auf den andern, und man saß auf dem trockenen. Melchior Lange mußte seiner Frau mitteilen, daß man auf das Arbeitseinkommen allein angewiesen, daß man proletarisiert sei.
Rosa Lange saß ein paar Tage an ihrem winzigen Damenschreibtisch. Zum erstenmal in ihrem Leben rechnete sie genau und ausdauernd. Sie strich die Ausgaben für den Hund, für die Sommerreise, das Kostüm ging gut noch ein Jahr, die Hüte ließen sich modernisieren. Das Mädchen war zu entlassen, eine Aufwartefrau tat es auch, ja beim zweiten Durchrechnen fiel die Aufwartung einem Bleistiftstrich zum Opfer, der die ganze Seite zerriß.
Das Essen? Da kamen schon die Ausgaben, die auch Melchior angingen. Aber er war wohl eher ein Vielesser als ein Feinschmecker, und so ließ sich der Kaffee mit Zichorie schwärzen, die Kochbutter durch Rahma butterfein ersetzen. Ob er wohl auch eine billigere Zigarre wählen würde, weniger Kognak oder minderen trinken? Ging sein Sommermantel nicht auch noch ein Jahr, mußten es wirklich neue Tennishosen sein? Sie rechnete und strich. Aber am Ende ging es ohne eine völlige, einschneidende Änderung nicht: die Klubbeiträge nämlich, die Ausgaben für Sport und Tanz, die Kosten für Gesellschaften waren nicht aufzubringen.
Die junge Frau fand tagelang nicht den Mut, ihr Budget zu zeigen. Schließlich kam sie aber doch mit ihren Zetteln an. Melchior zog die Stirn noch höher als sonst, schob die Oberlippe vor und versuchte, den kleinen Schnurrbart glattzulegen. Er knurrte, schüttelte den Kopf, entschloß sich schließlich, die Sache lächerlich zu nehmen. Er schlug sie auf die Schultern, tätschelte ihr die Wangen. Das war so recht die Vorstellung eines Frauenzimmers. Man sollte zwischen seinen vier Wänden eingehen. Tages Arbeit, abends Stumpfsinn. War das Radio vielleicht erlaubt? Im Ernst: es gab für einen, der vorwärts wollte, nichts Dummeres, als sich vom gesellschaftlichen Leben auszuschließen. „Ich werde es schon machen,“ schloß er sonor, „ich habe allerlei Pläne. Aber deine dilettantischen Eisenbartkuren lehne ich ab.“
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