Das kleine Mädchen hat keine Spielkameraden. Sie ist schweigsam, zu Tränen und Zorn geneigt. Sie findet es schön, daß sie eine dunklere Haut hat als die anderen, und kann nicht begreifen, daß man sie verächtlich den „Mohrenkopp“ nennt.
Elli Besser verfolgt gespannt das Größerwerden ihrer Tochter. Langsam steigt das Gesicht des Südländers wieder aus dem blinden Hotelspiegel auf. Stirn, Augen, Haarfarbe, Hautfarbe, später auch das herrliche weiße Tiergebiß — alles ist von ihm. Als habe er das Kind ohne den Umweg über die Mutter in die Welt gesetzt.
Käthe lernt, daß sie eigentlich „irgendwo im Süden“ zu Hause ist und nichts im Laden und in der dunklen Kochstube dahinter zu suchen hat. Sie wird durch die Warenhäuser geschleppt. Kann bald Billiges von Teurem unterscheiden. Reiche und Arme werden ihr vorgestellt als Faule und Fleißige. Fleiß, Armut und Dummheit scheinen dasselbe zu sein. Ziemlich spät lernt sie die Natur kennen, oder wenigstens jene nächste Umgebung Berlins — das Wasser, die Kiefern und die Brombeergebüsche —, von der die Reichen sich ein Stück zu eigenem Gebrauch abschneiden, um es mit Blumen und Häusern zu bepflanzen.
Mit dreizehn Jahren kommt Käthe aus der Schule. Sie will schnell Geld verdienen, hängt sich einen kleinen Bauchladen um und verkauft in der Friedrichstraße die billigen Parfüms, Streichhölzer und Zigaretten aus dem Laden der Mutter.
Trotzdem sie sich schäbig anzieht, sieht sie entzückend aus. Ein Madönnchen, das zarte Gesicht von buntem Tuch eingerahmt, ein schmaler Körper, dessen frühreife Fraulichkeit aus den Kinderlumpen scheint.
Sie verkauft ausgezeichnet. „Unsre südliche Jöre“ wird der Liebling der Kleingewerbler dieser Straße. Die Nachtportiers, die Kellner, die Dirnen schieben ihr Kunden zu oder kaufen bei ihr zu ermäßigten Preisen. Die Anzüglichkeiten der flanierenden Männer scheint sie nicht zu verstehen. Sie verkauft wirklich nur ihre Ware.
Eines Tages greift ein betrunkener alter Herr sie tätlich an. Käthe zertrümmert in einem Zornanfall mit ihrem Laden den steifen Hut des Alten und bearbeitet seinen kahlen Schädel mit einem aufgerafften Pflasterstein. Es entsteht ein Riesenauflauf. Käthe und ihr Angreifer müssen auf die Polizeiwache. Etliche Passanten drängen nach. Bezeugen die Berechtigung der Abwehr. Am heftigsten gestikuliert zu ihren Gunsten Professor Dr. Selbiger aus Dresden, ein spitzbärtiger Menschenfreund, durch Paßkarte als Oberrealschuldirektor ausgewiesen.
Acht Tage später reist Käthe, durch Selbiger mittels einer bedeutenden Summe vom Mutterherzen losgerissen, nach Dresden, wo sie in einer Villa halbwegs Hellerau von der runden, freundlichen Frau Selbiger und ihrem eckigen Sohn Thomas in Empfang genommen wird.
Käthe bewohnt ein Zimmer im zweiten Stockwerk mit Blick über den großen Garten ins Elbtal. Sie führt das Leben einer höheren Tochter, verschärft durch das allseitige Ringen um ihre Bildung, gemildert durch die Liberalität des Ehepaares Selbiger und durch den soliden Reichtum des Haushaltes.
Die Dresdner Kulturbestrebungen haben für Käthe kein Interesse. Die sozialen Bemühungen Selbigers sind ihr schleierhaft. Sprachen und Naturwissenschaften lernt sie leicht. Sport macht ihr Spaß. Im Tennis wird sie Meisterin von Dresden. Sie ist kurzberockt und überschlank, bevor die Mode das wünscht.
Der Krieg geht an der Villa fast unbemerkt vorüber. 1917 stirbt Elli Besser, die Mutter. Käthe nimmt es zur Kenntnis.
Beim Ausbruch der Revolution ist der achtzehnjährige Thomas auf seiten der Aufrührer, während Käthe dafür ist, den Besitz zu verteidigen. Sie streitet mit Thomas nächtelang. Entdeckt, daß er ein hübscher Bursche geworden ist. An seiner Menschenliebe entzündet sich eine heftige Leidenschaft. Als die Eltern im Sommer verreisen, bleiben die beiden allein im großen Haus, finden sich, führen vier Wochen eine verliebte, spielerische Kinderehe. Sie verbergen den rückkehrenden Eltern nichts. Es ist ihnen klar, daß sie heiraten werden.
Selbigers rasen, als sei die schlimmste Blutschande geschehen. Käthe wird mit drei Koffern, einem Billett Zweiter und hundert Mark bar nach Berlin entlassen. Thomas Selbiger bindet sich einen Stein um den Hals und versucht sich in der Elbe zu ertränken. Man zieht ihn rechtzeitig heraus. Er fiebert wochenlang, schreit nach Käthe. Liegt dann einen Monat, ohne zu sprechen, still im Bett. Hat schließlich heraus, daß es wirklich gut ist, wenn er Käthe nicht heiratet, trotzdem er nie wieder eine Geliebte von so natürlicher Süßigkeit finden wird. Weiß aber auch, daß man so nicht liberal sein kann, so nicht menschenfreundlich wie Professor Dr. Selbiger, sein Vater. Thomas reist nach Hamburg, kommt durch Empfehlung auf einem Dampfer unter, reist anderthalb Jahr zur See und stirbt in Java an der Malaria, ein Jahr bevor Käthe dorthin kommt.
Käthe geht als Zimmermädchen in ein Hotel. Das schlimmste ist, daß sie mit zwei andern Mädchen zusammen schlafen muß, zwei unsauberen, dummen Dingern, die nur von Männern und von Trinkgeld sprechen und nicht dulden, daß man nachts ein Fenster aufmacht.
Manchmal wird Käthe wach, weil sie sich nach ihrem Dresdener Zimmer sehnt, nach dem Geruch des Gartens und dem Blick ins Elbtal. An Selbigers denkt sie weder im Guten noch im Bösen.
Ein Jahr geht herum. Ein zweites. Der Winter 1922/23 beginnt. Die Inflationswelle schwemmt immer mehr Ausländer nach Berlin. Sie sind gewöhnt, daß sie für ihr gutes Geld alles kaufen können. Käthe Besser ist so schön geworden, daß nur die Plumpsten ihr Dollars und Gulden anbieten. Aber schöne Kleider könnte sie bekommen, ein Auto, Schmuck, ein Landhaus bei Friedrichshagen, wenn sie es nur acht Tage mit Mister Veryman bewohnen würde.
Sie will das alles nicht. Sie will auch nicht die Freundin des Chefs werden. Aber er ist schließlich bereit, sie zu heiraten. Sie soll nur beschwören, daß sie nie jemand anderen geliebt hat. Sie denkt ernsthaft nach. Das mit Thomas war doch etwas, was man nicht mit einer so ernsten Heirat vergleichen kann. Sie geht in die Wohnung hinunter, um ja zu sagen, steht im Dunkeln, riecht Samtmöbel, kalten Zigarrenrauch, Leder, staubige Strohblumen. — Nein — da kriegt sie auch keine Luft. Es hat keinen Zweck.
„Ich will nichts beschwören,“ sagt sie am andern Tag dem Chef, „weder meine Liebe, noch meine Unschuld, noch sonstwas. Ich weiß nichts.“
Sie wird zum nächsten Ersten gekündigt. Acht Tage bevor sie gehen muß, bezieht Herr Frans van Stejn, ein vierzigjähriger holländischer Kaffeehändler, das schönste Zimmer in Käthes Etage.
Gleich am ersten Morgen läßt er seine Brieftasche liegen. Käthe hebt sie auf. Das Bild einer fetten, unfreundlichen Dame fällt heraus. Käthe schiebt es zurück. Sie sieht die Scheine dicht an dicht liegen. Sie möchte gern einen herausziehen und einstecken. Es ist fast unmöglich, daß der Fremde einen Verlust merkt. Sie zupft den Schein ein klein wenig hervor, klappt dann eilig die Tasche zu und streckt sie erschreckt dem Holländer entgegen, der atemlos in der Tür steht.
Herr van Stejn verbeugt sich blaß und aufgeregt. Er hat ganz gut gesehen, daß sie stehlen wollte. Aber er lügt es eiligst weg. Wie schön ist diese Frau! Endlich nach all den blassen Gesichtern ein bronzebraunes wie auf Java!
Stejn ist so groß, daß er sich ein wenig auf die Knie niederlassen muß, um den Glanz der dunkelgelben Augen zu bewundern, die zarten schwarzen Brauen und das helle Rot der Lippen.
„Ich liebe Sie“, sagt er leise und trocken, hebt sie auf und trägt sie wie ein Kind im Zimmer hin und her. Käthe Besser sagt nichts. Ihr ist aber, als könne sie nach Jahren der Schlaflosigkeit endlich einschlafen.
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