Wetzel traf im Herbst 1922 ein. Der Oktober war sonnig und heiß. Das bunte Obst in den Gärten, Blumen, Kürbisse und die gelben Bohnen machten die Landschaft fröhlicher, als sie war. Er fuhr mit seinem Motorrad durch die vier Dörfer, die zu seiner Praxis gehörten. Er begrüßte die Bauern und Bäuerinnen und machte den Pastoren, Lehrern, Postbeamten und Gendarmen seinen Besuch. Er notierte sich die Leiden und Krankheiten, die Anzahl der Kinder und die kommenden Geburten. Es machte ihm Spaß, eine Praxis aufzubauen. In der Freizeit arbeitete er im Garten. Er fing an, das Unkraut hinauszusclimeißen, legte ein Glasbeet an, reparierte den Schweinestall, brachte den Hühnerhof in Ordnung. Er trug Manchesterhosen, hohe Stiefel, blaue Leinenhemden und eine Lederjacke. Er war nahezu glücklich. Endlich das wirkliche Leben. Ohne Hast und Hetze und Frauen!
Als es Winter wurde, war es aber doch etwas merkwürdig. Der Schlaf reichte nicht für die ganze Zeit der Dunkelheit. Wenn ihn niemand zu Kranken holte und nur Regen und Wind draußen waren, deren Sprache er noch nicht genau kannte, dann war er wieder an sich selbst verloren. An sich selbst: das war seine Vergangenheit. Er begann zu lieben, was er gewesen war. Damals, als ich noch studierte, dachte er etwa. Oder: Als Junge schrieb ich schon so gute Aufsätze ... Oder: als Student war ich klüger als meine Altersgenossen ... Oder: bis zu Vera unterwarf ich jede Frau, war ich jung, gläubig, einfach. (Auf das Einfache, Gerade legte er höchstes Gewicht. Die Frauen waren demgegenüber das Unklare, Unwahre, Nebel, Dunst.) Er blieb bei Vera stecken. Er kämpfte mit ihrem Schatten. Er konnte ihre Stimme im Regen hören. Es kränkte ihn, daß sie sein Landleben auslachte, samt Manchesterhose und blauem Leinenhemd. Und trotzdem stellte er ein Bild von ihr auf den Schreibtisch. Ein sehr gewagtes Kostümbild. Ein bekleidetes Nacktbild. Es war eine Postkarte, wie sie Bühnengrößen anfertigen lassen, und sie hatte auch ihr Autogramm daruntergesetzt: „Vera van Nemes ihrem lieben Dr. Wetzel.“ Dies Bild hatte er aufbewahrt, als er alle anderen verbrannte. So ging er mit seiner Vergangenheit um.
Bei einer Weihnachtsfeier des Kriegervereins lernte Wetzel endlich Lena Wagenfeld kennen, die einzige Tochter des Bauern Wagenfeld, von der er schon viel gehört hatte. Sie setzte nämlich den Klatsch durch kleine Absonderlichkeiten immer wieder in Bewegung, durch eine übertrieben städtische Kleidung etwa, durch Romanlesen, durch ihre Reitleidenschaft und ihre Anfälle sozialen Mitgefühls, die sich in Armenpflege im Dorf oder in der Aufnahme von Ferienkindern aus den Leunawerken äußerten. Eigentlich war sie mit ihren zwanzig Jahren noch nicht mehr als ein altkluges Kind. Oder noch so viel wie ein Kind, das nicht wußte, was es mit seinen Kräften anfangen sollte und mit den überschwenglichen Gefühlen, für die es in ihren Kreisen keine Verwendung gab.
Wetzel machte ihr gleich den Hof. Diesem Blond konnte er nicht widerstehen. Dieser zarte, eckige Körper wirkte unter den Bauern überfeinert. Die Stimme war von einer rührenden, rauhen Zerbrechlichkeit.
Er hatte auch sofort ihr Vertrauen. Er war ja viel klüger als alle, die sie kannte. Die Pastoren eingeschlossen, von denen einer einmal um sie geworben hatte. Er konnte, er sollte über sie bestimmen. Wenn er, wie er sagte, zur Liebe nicht geschaffen war, wenn er die Heirat verabscheute und über die Freundschaft spottete, so war es für sie natürlich schwer, sich in seiner Nähe zu halten. Geistig? Geistig konnte sie ihm nichts sein. Sie besuchte ihn einmal im Frühling unter hundert Vorsichtsmaßregeln. Sie wanderte oben durch das Wohnzimmer, das Schlafzimmer, sie besah sich kopfschüttelnd die Hunderte und aber Hunderte von Büchern. Wetzel hatte wirklich die meisten gelesen? Himmel, Himmel! Sie fuhr ihm mit einem Finger über die Stirn. Nein, geistig konnte sie ihm nichts sein.
Sie besah dann Veras Bild. Sie wußte nicht recht, was sie sagen sollte. Am liebsten hätte sie gelacht. Aber Wetzel machte ein ernstes Gesicht. Er seufzte sogar. Sie stellte das Bild wieder hin. Also körperlich? Wenn er sie nur wollte. Sie war bereit. Wetzel zögerte aber lange. Er stellte ihr vor, daß sie unter Umständen mit ihrem Ruf ihr ganzes Leben zerstörte, die Zukunft mit Mann und Kindern. Nein, um Gotteswillen, er wollte sie nicht verführen. Es fehlte ihm ja nicht an Frauen. Er hatte sein Motorrad, und Halle war nicht weit. Jedenfalls legte er Wert darauf, ihr nichts zu versprechen. Er wollte keine Schuld haben. Schuld? Da hätte sie stutzig werden müssen. Schuld? Nein, er schuldete ihr nichts. Oder? Doch, eine Kleinigkeit. Sie wollte mit ihm einen Pakt schließen. Sie wollte nicht mehr, aber auch nicht weniger als andere haben. Er brauchte sie nicht zu lieben. Aber er sollte sagen, daß er auch keine andere liebte, und es ihr in Zukunft sagen, sobald er liebte.
Wetzel wurde heftig. Er hatte es doch schon so oft gesagt: er konnte gar nicht lieben. Aber sie vielleicht? Sie schüttelte lächelnd den Kopf. Nein, sie wohl auch nicht.
Damit war also der Pakt geschlossen. Ein paar Tage später kam Lena, um sich dem Freunde ganz anzuvertrauen.
Ein Jahr oder mehr ging alles gut. Es war eine aufgeregte Zeit. Hunger, Revolten, Streiks gab es. Die Leunawerke wurden stillgelegt, die Lichter verloschen und flammten wieder auf. Lastautos mit Arbeitern kamen ins Dorf, um Nahrungsmittel bei den Bauern zu requirieren. Später marschierten Stahlhelmleute ein und schließlich Reichswehr, um die Ordnung herzustellen. Zwischen diesen Verwirrungen konnten Lenas Besuche verborgen bleiben, und daß sie manchmal mit Wetzel auf dem Motorrad fortfuhr, fiel nicht so sehr auf. Der Doktor nahm zuweilen auch andere Bauernmädchen mit. Später hatten sie es alle gewußt.
Der Lehrer bekam es zuerst heraus. Er hatte ihr nachgespürt, weil er sie liebte. Er versprach, ihr Geheimnis zu hüten, aber sie sollte ihn heiraten. Sie lachte ihn nur aus. Zu Wetzel sagte sie nichts. Die paar Stunden, die man hatte, wollte sie nicht mit dem Kleinkram der übrigen Tage füllen. Sie hatte aber wohl doch nicht mehr die Unbeschwertheit, die todesmutige Heiterkeit, die Wetzel sonst in Entzücken versetzte. Das heißt: es war wohl alles da. Aber eine Wolke darüber. Er merkte es lange nicht. Dann fragte er. Sie wußte von nichts, wich aus, lachte. Schließlich sagte sie schluchzend: „Ich liebe dich nun doch.“
Der junge Arzt war betroffen, weil er eigentlich dasselbe hätte sagen können. Er stand an der gleichen Stelle, an der er mit Vera gestanden hatte. Aber das durfte er nicht zugestehen. Was erloschen war, konnte nicht noch einmal aufflammen. Was einmal geflammt hatte, konnte nicht verlöschen. Das war die Wahrheit. Er hatte Vera geliebt. Vorbei und nicht vorbei, das ist das Geheimnis der Liebe, dachte er. Es ist aber nur das Geheimnis des Trotzes.
Er schrieb an Vera einen Brief. Lena durfte das nicht wissen. Er schrieb, daß er sie wohl vergessen könne, aber nicht abtun. Er schrieb von der Tragik der Verwicklungen und Verwirrungen, die leicht zu verstehen und schwer zu tragen seien. Er demütigte sich zum Schluß ein wenig, nicht weil er demütig sein wollte, sondern weil das anzieht. Er starrte ihr Bild an und flüsterte: „Komm, komm.“ Kurz: er benahm sich recht albern, berauscht und wankelmütig. Und als er den Brief eingesteckt hatte, war ihm plötzlich klar, was kommen mußte. Er sah es deutlich. Er wartete am Briefkasten, bis der Postbote Herrmann zum Leeren kam. Er wollte sich den Brief wiederholen. Aber dann grüßte er den Alten nur und ging nach Hause. Der Brief aber fuhr nach Holland und holte Vera.
Sie kam an einem Montagabend in P. an. Sie steuerte den kleinen Wagen selbst, trug einen karierten Capemantel, eine Lederkappe und hellgelbe Stulpenstiefel. Wetzel war nicht zu Hause. Sie stellte sich der Wirtschafterin als seine Frau vor, saß oben im Zimmer, lief rings um den Tiroler Balkon und rauchte. Endlich kam der Mann. Sie nahm die Kappe herunter, strich das Haar zurück, zog die Mundwinkel, lächelte ein wenig.
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