»Früher hättest du mich geküsst und dir dann eine Zigarette angesteckt. Rauchst du nicht mehr?«, sagte Irma nach einer Weile.
»Nein. Vor zwei Jahren habe ich aufgehört«, sagte ich und umfasste ihre Schulter. »Und ich habe auch schon länger nicht mehr geküsst. Ich weiß gar nicht mehr, wie das geht.« Irma drehte ihren Kopf lachend zur Seite, als ich einen unbeholfenen Annäherungsversuch machte.
»Und was hat sich sonst noch bei dir geändert? Du hast neulich am Telefon versprochen, mir von dir zu erzählen.«
»Eine ganze Menge«, sagte ich. »Ich habe meinen Job beim Magazin Zenit verloren und meine Scheidung zieht sich schon fast ein Jahr lang hin.«
Auch als sie nachfragte, machte ich zu diesen Themen nur ein paar Andeutungen und erzählte lieber von meiner überraschenden Immobilien-Erbschaft.
»Dann hast du ja keine finanziellen Sorgen, dann kannst du endlich deinen großen Roman schreiben, auf den die Welt schon seit Jahren wartet.«
»Mir fehlt ein Thema, das mich wirklich bewegt und umtreibt. Und wahrscheinlich auch das Durchhaltevermögen zum Schreiben eines Buches.«
»Versuch’s doch erst mal mit einem kleinen Krimi, das liegt dir vielleicht mehr. Falls du einen Anfang suchst, wie wäre es denn damit: Ein paar Kinder und ein Hund finden im Wald einen Menschenknochen ...«
»Falsch«, sagte ich. »Ein Unbekannter gibt ein paar Kindern und ihrem Hund einen Menschenknochen und sagt, sie sollen dieses makabere Teil bei einem bekannten Konzernchef und Großverleger abliefern ...«
»Ziemlich gruselig, nicht wahr?«, sagte Irma.
Wir hörten Schritte. Auf dem Kiesweg kam der Schattenriss eines Mannes auf uns zu. Irma nahm meine Hand. Es war ihr Vater.
»Man hat mir gesagt, dass ihr hier unten seid«, sagte Malte von Mellin. »Habt ihr noch einen Platz frei?«
Wir mussten auf der Holzbank enger zusammenrücken. Er setzte sich mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit neben uns.
»Schön hier«, sagte er. »Das ist im Sommer einer meiner Lieblingsplätze.«
Ich konnte die beiden von der Seite betrachten. Die hohe Stirn, die schwungvollen Augenbrauen, die schmale Nase, das ausgeprägte Kinn – die Profile von Vater und Tochter waren beinahe deckungsgleich. Sein Mund war schmaler und härter als der seiner Tochter.
»Das Schloss da oben, der kleine See vor uns, der Golfplatz am anderen Ufer – so hatte ich das schon vor Augen, bevor ich damals den Kaufvertrag für das völlig heruntergekommene Anwesen unterschrieben habe«, sagte er und verfiel dann in längeres Schweigen.
»Sie haben wirklich Glück gehabt im Leben«, sagte ich, nur um irgendetwas zu sagen, und fand die Bemerkung gleich ziemlich unpassend.
»Wissen Sie, Herr ...«
»Anders«, sagte seine Tochter. »Neulich, als wir die Gästeliste für das Geburtstags- und Golfwochenende gemacht haben, hast du noch gesagt, dass du dich noch an Jonas Anders erinnern kannst. Du wirst doch vergesslich, Papa!«
»Mit meinem Namensgedächtnis hapert es allerdings schon immer.« Er holte ein Zigarillo aus einem Etui, zündete es sorgfältig an und blies die ersten Qualmwolken genüsslich in die Abendluft. Es roch gut und teuer.
»Übrigens habe ich lange nicht mehr einen Ihrer geschätzten Beiträge im Zenit gelesen, Herr Anders«, sagte er dann und fügte süffisant hinzu: »Ich habe schon richtige Entzugserscheinungen. Arbeiten Sie an einer großen Serie? Oder waren Sie wieder mal auf einer kostspieligen Recherchereise irgendwo in der Welt unterwegs? Oder leiden Sie gerade an einer Schreibblockade, wie so manche der hochbezahlten Edelfedern in unserem Verlag?«
»Papa ...!«, sagte Irma.
»Offenbar ist Ihnen entgangen, dass ich schon seit einigen Jahren nicht mehr Mitarbeiter Ihres Hauses bin«, sagte ich, »aber Sie haben natürlich Wichtigeres, um das Sie sich kümmern müssen.«
»Jonas ...!«
»Jetzt, wo Sie es sagen ... Ich habe doch davon gehört. Sie hatten wohl Ärger mit Ihrem Chefredakteur. Mussten wir Ihnen eigentlich eine Abfindung zahlen?«
Ich wollte eine bissige Antwort geben, schwieg dann aber doch lieber.
»Was machen Sie denn nun, Herr Anders?«
»Er arbeitet an einem Buch«, sagte Irma und lächelte mir aufmunternd zu.
»Interessant«, sagte er uninteressiert.
Wir blickten alle drei über den schmalen See zum Golfplatz hinüber. Im Zwielicht der Dämmerung rollte noch ein Elektrokarren aus der Richtung des inzwischen beleuchteten Clubhauses beinahe geräuschlos über das frisch gemähte Fairway der zweiten Bahn. Eine junge Frau in heller Golfkleidung steuerte den kleinen Wagen. Ich erkannte Jessica Liedtke, die ausgesprochen hübsche Golflehrerin, bei der die männlichen Clubmitglieder gerne Trainingsstunden nahmen. Ich auch. Sie war nicht nur ansehnlich, sondern hatte wirklich Ahnung vom Golf und war eine geduldige und einfühlsame Lehrerin. Neben ihr saß ein etwas älterer Mann. Auch er kam mir bekannt vor, aber ich wusste nicht woher.
»Wollen die jetzt noch spielen? Die können bei diesem Licht doch kaum noch einen Ball sehen«, sagte Irma.
»Vielleicht suchen sie noch nach einem verlorenen Schläger.«
»Oder sie wollen doch noch spielen – aber kein Golf.« Irma lachte.
Als der Karren außer Sicht war, drehte sich der alte Mellin zu mir um.
»Vorhin haben Sie gesagt, ich hätte in meinem Leben Glück gehabt. – Das ist wohl so gewesen, wenn die Definition richtig ist, die ich vor kurzem gelesen habe: Danach bedeutet Glück haben: zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein und eine Gelegenheit zu nutzen!«
Diese Art von Glück habe er wohl tatsächlich in seinem Leben gehabt – zumindest in seinem beruflichen Leben als Unternehmer und Verleger. Privat eher nicht, fügte er hinzu.
Malte von Mellin wandte sich an seine Tochter.
»Auf dich kommt jetzt so eine Gelegenheit zu, bei der du das Glück ergreifen kannst, Irma – früher, als wir gedacht haben.«
Es sei zwar eigentlich nicht der richtige Ort und die richtige Stimmung, um ihr das jetzt zu sagen, aber er müsse nach einer Übernachtung im Schloss morgen früh gleich nach Hamburg zurück, und wahrscheinlich würden sie sich vorher nicht mehr sehen ... Und nach einer kleinen Kunstpause sah er zu mir herüber und sprach dann, an seine Tochter gewandt, leise weiter.
»Ich möchte, dass du die Fusionsverhandlungen mit Atlantic Publishers in den USA übernimmst. Nach unserer Reise bin ich überzeugt, dass du das besser kannst als dein Bruder.« Dann sagte er noch, als habe er etwas vergessen: »Den Vorstand habe ich bereits unterrichtet. Noch streng vertraulich natürlich.«
Er stand auf und schüttelte seiner Tochter länger die Hand, als wolle er eine mündliche Vereinbarung besiegeln. In meine Richtung machte er eine vage, freundliche Geste. Dann ging der Verleger mit knirschenden Schritten über den Kiesweg zurück, so, wie er gekommen war. Offenbar hatte es ihn nicht gestört, dass ich mithören konnte.
Irma war eine Weile sprachlos.
»Mist«, sagte sie dann, »damit habe ich nicht gerechnet, jedenfalls jetzt noch nicht.«
»Du wolltest den Job doch machen«, sagte ich. »Jedenfalls hatte ich bei unserem Telefongespräch neulich diesen Eindruck.«
»Ja, schon. Es ist eine Herausforderung und eine Chance. Und dass ich ehrgeizig bin, ist ja kein Geheimnis. Vor allem will ich es auch meinem Bruder zeigen, der mich immer noch so von oben herab als kleine Schwester behandelt. Aber trotzdem finde ich es schade, dass mein Vater uns ausgerechnet jetzt die Stimmung verdorben hat. Wahrscheinlich mit Absicht, wie ich ihn kenne.«
»Macht nichts«, sagte ich lahm. »Geschäft ist Geschäft.«
Wir standen auf und wollten den Spuren ihres Vaters auf dem Kiesweg folgen, als der Elektro-Golfkarren mit hoher Geschwindigkeit aus Richtung Wald zurückkam und wild schlingernd den Hügel herunterraste. Auf dem abschüssigen und welligen Teil des Fairways drohte er umzukippen. Wir erkannten Jessica Liedtke. Sie saß allein am Lenkrad. Sie hatte uns auch gesehen. Sie winkte heftig, bremste auf der anderen Seite des Sees an einem langen Holzsteg, der das Wasser überquert, und rief etwas zu uns herüber.
Читать дальше