Jürgen Petschull - Die Mauer

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In 11 Kapiteln erzählt Jürgen Petschull die Geschichte der Berliner Mauer von Walter Ulbrichts berühmtem Satz «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten» bis zu deren Öffnung und Fall im November 1989. Der Schwerpunkt wird dabei auf die bewegten Tage des Mauerbaus im August 1961 sowie auf ihre nicht minder bewegten letzten Tage im Herbst 1989 gelegt. Zahlreiche historische Text- und Bilddokumente runden Petschulls Darstellung ab. Ein packendes Zeitdokument zum wohl einschneidendsten deutschen Trauma der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.Jürgen Petschull, 1942 in Berlin geboren, ist ein deutscher Schriftsteller und Journalist, der unter anderem lange Jahre für den Stern Reportagen und Serien über zeitgeschichtliche Themen verfasst hat und Chefreporter von Geo war. Heute lebt Petschull in Bremen sowie in einem Haus am Flüsschen Oste und schreibt Sachbücher und Romane, die häufig auf tatsächlichen historischen Geschehnissen basieren. Viele seiner Bücher sind in mehrere Sprachen übersetzt worden.-

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Die Mauer

August 1961 – November 1989 vom anfang und vom ende eines deutschen bauwerks

Jürgen Petschull

Saga

Vorwort

Ende der Mauer – Anfang der deutschen Einheit?

November 1989. Ganz Berlin ist eine Wolke, ein Herz, eine Seele. Nicht wiedervereinigt, doch wiedervereint.

Am Ende hat eines der traurigsten Kapitel deutscher Geschichte überwiegend heitere Seiten: Auf der Mauer treten Feuerschlucker auf, kreisen Sektflaschen, reichen sich Polizisten (West) und Grenzsoldaten (Ost) die Hände, sinken sich Deutsche (BRD) und Deutsche (DDR) in die Arme, wird das Ende des kalten Krieges mit heißen Getränken und wärmendem Schnaps begossen. Seither beschäftigt eine Frage die geteilte Nation: War das Ende der Mauer der Beginn der deutschen Einheit?

„Die Deutschen sind jetzt das glücklichste Volk der Welt“, sagt Berlins Regierender Bürgermeister Walter Momper. „Ich habe meiner Tränen kaum Herr werden können“, gesteht Willy Brandt. Der Chefredakteur der „Zeit“, Theo Sommer, hat sein Ohr am Volke und hört heraus: „In den Herzen der Deutschen läuten die Glocken.“ Und als im Bundestag „Einigkeit und Recht und Freiheit“ angestimmt wird, da entringt sich dem Abgeordneten Hubert Kleinert der Stoßseufzer: „Mein Gott, auch das noch.“

*

Überraschen konnte der Massenausbruch unterdrückter Gefühle kaum. Nichts hat die Deutschen so sehr getrennt wie die Mauer in Berlin, physisch, politisch und emotional. 28 Jahre, zwei Monate und 26 Tage lang verlief hier für die meisten von uns die Front zwischen Gut und Böse, zwischen sozialer Marktwirtschaft und sozialistischer Zwangsherrschaft, zwischen Demokratie und Diktatur.

Für die einen war das von Hunden und Minen und von Männern mit Maschinenpistolen gesicherte Bauwerk aus Beton „die Schandmauer“, errichtet von „kommunistischen Unterdrückern, die 17 Millionen Deutsche in ein riesiges Gefängnis gesperrt haben“. Für andere galt es als „moderne Friedensgrenze“, als „antiimperialistischer Schutzwall“, als „Bollwerk gegen westliche Militaristen, Revanchisten und Monopolkapitalisten“. Dabei wurde auf beiden Seiten der Mauer vergessen – oder böswillig unterschlagen –, daß nach dem Krieg engagierte Menschen in Deutschland-West wie in Deutschland-Ost eine bessere Welt bauen wollten, in der sich die Katastrophe des Hitler-Reiches nie wiederholen sollte:

Die Deutsche Demokratische Republik war als Staat mit marxistischen Idealen gedacht, mit Gleichheit und Brüderlichkeit, ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen – aber mit staatlicher Planung, mit Vorrang des Kollektivs und Einschränkungen für den einzelnen. Zum Wohle aller. In der Bundesrepublik Deutschland wurde mit Hilfe der westlichen Siegermächte ein demokratisches System installiert, mit freien Wahlen, mit Meinungs- und Pressefreiheit, mit politischem und wirtschaftlichem Wettbewerb und mit Recht auf Selbstverwirklichung für den einzelnen. Zum Wohle aller.

Der Wettkampf der Systeme, von den Supermächten USA und UdSSR in beiden Teilen Deutschlands angefacht und weiter geschürt, eskalierte zum 13. August 1961. Berlin wurde geteilt. Mitten in der Stadt wuchs die Mauer. Die jeweils von ihrer gerechten Sache überzeugten Deutschen hüben und drüben entfremdeten und verfeindeten sich noch mehr.

Die Mauer wurde zum Monument dieser politischen Entfremdung – gleich von welcher Seite aus man sie betrachtete. Sie war Anlaß und Schauplatz ungezählter menschlicher Tragödien. Familien und Freundschaften sind durch sie zerrissen worden. Menschen wurden getötet, verletzt und ins Gefängnis gesperrt, weil sie die Mauer überwinden wollten. Ein 22jähriger Ostberliner starb noch im Februar 1989 im Kugelhagel. Er war das 80. Todesopfer.

Für dieses Leid sind diejenigen verantwortlich, die die Mauer gebaut haben: die damaligen Machthaber in Ost-Berlin und in Moskau. Mitverantwortlich sind aber auch Politiker und Meinungsmacher im Westen, die die DDR politisch und wirtschaftlich in den Ruin treiben wollten – Konrad Adenauer und Axel Springer, um zwei herausragende Persönlichkeiten aus der Zeit des kalten Krieges zu nennen.

Aber, so stellte sich bei den Recherchen für dieses Buch auch heraus, es ist nicht auszuschließen, daß durch den Mauerbau Schlimmeres verhütet worden ist – ein Krieg um Berlin, der schnell zu einem Atomkrieg geworden wäre. Erst als in den USA die Archive geöffnet wurden, als die Pläne der Militärs an die Öffentlichkeit kamen und Mitwirkende der Geschichte zu sprechen begannen, wurde klar, wie knapp wir alle davongekommen sind. Deutsche, Amerikaner und Russen. Der damalige US-Präsident John F. Kennedy wußte, wovon er sprach, als er wenige Tage nach der Teilung Berlins im Weißen Haus in Washington sagte, er könne die Aufregung der Deutschen nicht recht verstehen, die ein energisches Eingreifen der Amerikaner in Berlin forderten. „Es ist keine sehr schöne Lösung“, sagte Kennedy, „aber die Mauer ist, verdammt noch mal, besser als ein Krieg ...“

*

Und heute, 28 Jahre später? Herrscht nach den vom Volk in der DDR erkämpften Reformen, nach der Öffnung der Grenzen Friede, Freude, wenigstens Zufriedenheit im Lande über die unerwartet positive Wende der späten Nachkriegsgeschichte? Leider nicht. Schon sind rechte CDU-Politiker, Kanzler und Generalsekretär vorneweg, beim Ausheben alter Gräben zu beobachten. „Freiheit oder Sozialismus“ hieß die demagogische Wahlkampf-Devise der „Christlichen Demokraten“ in den sechziger Jahren. Hilfe für die DDR erst, wenn dort dem Sozialismus in allen denkbaren Formen für alle Zeit abgeschworen wird, heißt es heute. Nun sind sowohl die nun verblüffend reformfreudigen alten Parteien der DDR (inklusive der Basis der SED) ebenso wie die neuen radikal-demokratischen Volksbewegungen nicht für die Abschaffung, sondern ausdrücklich für eine „demokratische Erneuerung des Sozialismus“. Wie in der Sowjetunion Gorbatschows soll auch auf deutschem Boden ein gesellschaftliches Modell in eine zweite Versuchsphase gehen: Nachdem totalitäre Kommunisten von Stalin bis Honecker ihre Völker mit Gewalt und mit Meinungsterror, durch Gefängnisstrafen und Arbeitslager, durch Mauer und Schießbefehl zu ihrem vermeintlichen Glück zwingen wollten, sollen jetzt Selbstbestimmungsrecht und freie Wahlen, Freizügigkeit und offene Grenzen, mehr Leistungsprinzip und Marktwirtschaft mit sozialistischen Idealen von einem besseren, humaneren Zusammenleben in einer Gesellschaft vereinbart werden. Ein historisches, ein dramatisches, ein zerbrechliches Unternehmen, dessen Gelingen beste Absichten aller Beteiligten und aller Nachbarn voraussetzt. Denn nach dem Sturz der korrupten SED-Clique um Erich Honecker und Günter Mittag kann das Experiment „Demokratischer Sozialismus“ ebenfalls am natürlichen Egoismus der beteiligten Bürger scheitern – den von Marx konzipierten „neuen Menschen“, der sein persönliches Wohlergehen zugunsten der Gesellschaft zurückstellt, hat es bisher bestenfalls als Prototypen, nicht aber als massenhafte Erscheinung gegeben. Wenn dennoch eine Mehrheit der Bevölkerung in der DDR eine völlig reformierte sozialistische Staatsform wünscht, sollten wir sie unterstützen. Demokratischer Sozialismus in der Deutschen Demokratischen Republik – sozialer Kapitalismus in der Bundesrepublik Deutschland. Das erst wäre ein wirklicher Wettkampf der Systeme.

Erst wenn dieser alternative Versuch in der DDR mißlingt – erst dann ist der Sozialismus als idealistisches Modell staatlichen Zusammenlebens endgültig gescheitert. Erst danach, so meint der Münchener Historiker Prof. Christian Meier, könne die Frage der Vereinigung der DDR mit der Bundesrepublik aktuell werden. (Nicht die der „Wiedervereinigung“ wohlgemerkt, denn was es so zuvor nie gegeben hat, kann auch nicht „wieder vereinigt“ werden.)

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