Jürgen Petschull
Der letzte Tanz im Paradies
Ein historischer Thriller aus der deutschen Südsee
Saga
Für Connie
»Die Erinnerung ist das einzige Paradies, aus dem wir nicht vertrieben werden können.«
Jean Paul
Er möchte sterben, bevor sie ihn finden.
Sein rechter Arm ist bereits taub. Seine angewinkelten Beine zucken ohne Gefühl. An einem Fuß baumelt noch ein Stück des Stricks, mit dem er gefesselt worden war. Er hat keine starken Schmerzen, aber er spürt, wie sich die lähmende Wirkung des Giftpfeils von seinem Bauch aus bis in alle Glieder ausbreitet. Den Schaft hat er noch mit der linken Hand ergriffen, bevor er zu Boden gestürzt ist, aber jetzt reicht seine Kraft nicht mehr, um die Spitze mit dem knöchernen Widerhaken herauszuziehen.
Der Mann im zerrissenen Tropenanzug liegt am Rande des Dschungels, auf einer Lichtung oberhalb des Toriu-Flusses, einem Platz, der den Menschen des Waldes als Kultstätte zur Verehrung ihrer Ahnen heilig ist.
Sein Körper hat sich zusammengekauert wie der eines Ungeborenen im Mutterleib. Das Blut rauscht in seinen Ohren. Noch einmal kommt ihm die Meeresbrandung in den Sinn, die drei Tagesmärsche entfernt gegen den weißen Strand der Blanchebai schwappt. Er sieht die Häuser der deutschen Kolonialherren, die Faktoreien der Handelsfirmen und die Kirche der Missionare vor den ausgedehnten Palmenplantagen, die sich bis zu den Hügeln des endlosen Urwaldes erstrecken. Ein Südseepanorama, wie er es zum ersten Mal vor seiner Abreise aus Hamburg gesehen hat, auf einer handkolorierten Postkarte mit den Vulkanbergen im Hintergrund.
Durch das Rauschen in seinem Kopf dringen jetzt Rufe und Schreie. Sie suchen nach ihm wie Jäger nach einem weidwund geschossenen Wild, und nichts anderes wird er für die Kopfjäger sein. Wenn alles vorbei ist, werden sie seinen Schädel im Qualm einer Räucherhütte präparieren und dann am Eingang des Dorfes auf einen Pfahl spießen, zur Abschreckung ihrer Feinde und zum Schutz gegen die Dämonen des Dschungels.
Schon glaubt er, die zwitschernden Vogellaute zu hören, mit denen sich die Fährtensucher, die Bogenschützen und Speerwerfer untereinander verständigen, wenn sie sich vorsichtig einer Beute nähern.
Oder sind es die Vögel?
Mit großer Anstrengung öffnet er noch einmal seine Augenlider. Der Himmel über ihm ist schwarz. Vor dem heraufziehenden Tropengewitter dringt die Sonne durch ein Loch in der dichten Wolkendecke. Tatsächlich: Der Lichtstrahl erfasst jene fabelhaften Geschöpfe, denen er so lange vergeblich nachgestellt hat, bis er glaubte, sie existierten in Wirklichkeit gar nicht, sie seien nur Ausgeburten menschlicher Fantasie.
Jetzt aber sieht er sie vor sich, ganz nah – die Paradiesvögel!
Sie sind mitten auf der Lichtung gelandet. Ein halbes Dutzend, kaum drei, vier Meter von ihm entfernt. Ihre Federn leuchten im scharfen Sonnenschein wie die Farben des Regenbogens. Gelborange, purpurrot, türkisblau. Kein Vogel gleicht dem anderen. Die Schwanzfedern des einen sind bunt und breit geöffnet wie ein Fächer, die eines anderen schmal und lang wie ein stahlblaues Schwert. Eines der Vogelgesichter ähnelt der Miniatur einer venezianischen Maske. Ein anderes hat schwarz umrandete Augen wie ein Pandabär. Die Vögel schnattern und gluckern, trippeln und tanzen fröhlich durcheinander. Gemeinsam steigen sie wie ein bunter Luftballon bis unter die Kuppel des Urwaldes, bevor sie sich voneinander lösen und wieder einzeln zu Boden schweben wie Seifenblasen.
Dann bilden sie einen Kreis. Ein Vogelweibchen tritt vor. Es schlägt mit seinem Schnabel rhythmisch gegen den Stamm eines vom Sturm gefällten Baumes. Tapp, tapp, tapp ..., tipp, tipp, tipp ..., topp, topp, topp ... Es gurrt und seufzt und kichert, beugt den Oberkörper nach vorn und wackelt herausfordernd mit dem Hinterteil. Ein Hahn mit langer Schwanzfeder lässt sich locken und tritt zum Balztanz an. Die beiden umkreisen einander, schnäbeln und schnuppern und necken sich. Immer wieder bespringt der Hahn das Weibchen. Die Zuschauer trillern und pfeifen dazu – doch urplötzlich stieben die Vögel auseinander, schreien ängstlich, fliegen hoch und verschwinden im grünen Dunkel des Dschungels, aus dem sie gekommen sind.
Aus dem Unterholz schleichen die Jäger hervor, die Handlanger des Todes. Lautlos. Schritt für Schritt. Als sie den am Boden liegenden weißen Mann entdecken, spannen sie ihre Bögen, heben die Speere und die Lanzen.
Doch der Mann im Tropenanzug rührt sich nicht mehr. Sein Blick ist erstarrt. Aber auf seinem Gesicht liegt ein Lächeln, wie eine Erinnerung an den Tanz der Paradiesvögel, den er zuletzt doch noch mit eigenen Augen gesehen hat.
»Das Paradies liegt immer am anderen Ufer.«
Konfuzius
Hamburg, Mittwoch, 18. Januar 1899
An diesem Abend, an dem man den Kopf des jungen Naturforschers Sebastian Kleine unter äußerst merkwürdigen Umständen gefunden hat, sitzt der große Johan Cesar Godeffroy noch spät in seinem halbdunklen Kontor am Hamburger Hafen und ärgert sich sehr.
»Eine Nacktschnecke! Ausgerechnet eine schleimige Nacktschnecke ...«, sagt er, und dabei kippt seine sonst so sonore Stimme in eine schrille Tonlage um. Hätte man nicht ein ansehnlicheres Tier aus Ozeanien nach ihm benennen können? Einen hintersinnigen Humor habe der junge Mann ja schon immer gehabt, aber das hier gehe denn doch zu weit. Er werde sich jedenfalls nicht zum Gespött an der Börse machen lassen. Schon gar nicht von seinen eigenen Leuten!
Im matten Schein einer Petroleumlampe streicht Godeffroy mit groben Bewegungen auf einem Fahnenabzug für die neue Ausgabe des Journals des Museums Godeffroy herum, bis sein Farbstift einen von roten Blitzeinschlägen zerstörten Artikel hinterlassen hat. Zufrieden blinzelt er schließlich über seine Lesebrille zu seiner Frau hinüber.
Emily Godeffroy hat ihren Mann vom Besuchersessel auf der anderen Seite des schweren Mahagonischreibtisches aus eher uninteressiert beobachtet. Sie zupft an ihrem fein gestreiften Taftkleid, das bei jeder Bewegung raschelt. Eine Perlenkette glänzt im tiefen Ausschnitt. Ihre graublonden Haare sind kunstvoll hochgesteckt. Emily Godeffroy hat sich schon für das Abendessen bei Bankier Wolfram von Berendonk zurechtgemacht.
Dreimal schlägt Godeffroy auf seine Schreibtischklingel.
»Holen Sie mir Museumskustos Doktor Schmalz!«, ruft er dem Kontordiener zu, der über den spiegelglatten Marmorfußboden herbeischlittert und dabei vergeblich versucht, die Silberknöpfe seiner blauen Livree zu schließen. Der Herr Kustos, so beeilt sich der Diener zu sagen, werde sich mit seinen Gehilfen wohl noch im Museumsspeicher auf der gegenüberliegenden Straßenseite aufhalten. Dort sei am Nachmittag eine große Anzahl von Kisten und Säcken aus Ozeanien eingetroffen, wie er gehört habe.
»Schön, schön, dann holen Sie also den fleißigen Doktor Schmalz!«
Godeffroy wendet sich seiner Frau zu. »Eine schleimige Nacktschneckenart aus dem Urwald von Neuguinea hat unser allseits beliebter Jungforscher Sebastian Kleine also nach mir benannt. Was Besseres hat er wohl nicht gefunden? Oder er will mich auf den Arm nehmen!« Im Übrigen sei Kustos Schmalz ja wohl als Herausgeber des Museumsjournals überfordert, sonst würde er einen derartigen Unsinn nicht in Druck geben.
Emily Godeffroy tritt dicht hinter ihren Mann und drückt ihren weichen Busen gegen seine knochige Schulter.
Ihm fällt auf, dass ihre Haut nach Kölnisch Wasser riecht. Er mag diesen süßsäuerlichen Duft nicht. Wie oft soll er ihr das noch sagen? Seine Frau beugt sich weit vor, um den vom Rotstift entstellten Artikel entziffern zu können. Offenbar handelt er von neu entdeckten exotischen Pflanzen und Tieren, die von den Südseeforschern des Museums Godeffroy nach ihrem Auftraggeber und Mäzen benannt worden sind.
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