Jürgen Petschull
Die abenteuerliche Flucht
von
Deutschland nach Deutschland
Saga
Mit dem Wind nach Westen Copyright © , 2019 Jürgen Petschull und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726350937
1. Ebook-Auflage, 2019
Format: EPUB 2.0
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Kein Zweifel, es war die abenteuerlichste Flucht in der Geschichte des geteilten Deutschland. Zusammengepfercht auf einer winzigen Gondel, getragen von einem riesigen, selbstgenähten Ballon, überquerten zwei Familien unter sternklarem Himmel die Grenze zwischen Deutschland und Deutschland, zwischen Kommunismus und Kapitalismus, zwischen den Machtblöcken in Ost und West.
»Acht Menschen mit Heißluftballon aus der DDR geflüchtet«, berichtete per Eilmeldung am Sonntag, dem 16.September, die »Deutsche Presse Agentur«. Die Nachricht ging um die Welt. Überall im Westen – von Amerika bis Australien, von Finnland bis Südafrika – wurde das anscheinend unglaubliche Ereignis verbreitet und kommentiert. Und überall im Osten peinlich verschwiegen.
Eine Portion Schadenfreude war im Westen wohl auch dabei – platzte die Ballonflucht doch mitten in die Vorbereitungen zur größten Jubelveranstaltung der DDR, die unter dem Motto »Größte Leistungsschau des Sozialismus auf deutschem Boden« gerade ihren 30. Jahrestag feiern wollte. Vor diesem Hintergrund geriet die symbolträchtige Ballonfahrt der Familien Strelzyk und Wetzel aus der kleinen Stadt Pößneck in Thüringen in die kleine Stadt Naila in Oberfranken zum weltweiten Politikum.
Für die »New York Times« sprach »die Flucht zweier Familien mit einem Ballon Bände über die politischen, wirtschaftlichen und menschlichen Verhältnisse in der DDR«.
Die »Süddeutsche Zeitung« wertete das Ereignis als »unerhörte Tat, die einen bitterbösen Kommentar auf die Verhältnisse im Herzen Europas schreibt; zugleich freilich ist sie eine Hymne auf die Freiheit«.
Der gewöhnlich auch bei ernsten Angelegenheit zu Ironie neigende »Spiegel« pries das Geschehen diesmal mit ungebremster Begeisterung: »Die Ballonflucht stellt an schierer, vorbedachter Tollkühnheit nun wirklich alles in den Schatten, was unsere hochbezahlten Stuntmänner, Risikosportler und Abenteurer zu bieten haben.«
Die so bejubelten Flüchtlinge sehen das anders: »Warum muß man unbedingt einen Beweis unseres Heldentums finden?« überlegt sich der Ballonfahrer Peter Strelzyk, früher SED-Mitglied und »Verdienter Aktivist des sozialistischen Wettbewerbs«. Er fragt: »Ist es heldenhaft, frei sein zu wollen?« Und er stellt fest: »Unser Drang zur Freiheit war jedenfalls größer als unsere Angst.«
Dieses Buch entstand nach wochenlangen Gesprächen mit den Flüchtlingen und nach zusätzlichen Recherchen in Ost und West. Es schildert die dramatische Ballonflucht und ihre Hintergründe, und es gibt einen Einblick in das Alltagsleben in der DDR. Aber es kann nicht objektiv sein. Denn es schildert die Verhältnisse drüben aus der Sicht von Menschen, die gute Gründe hatten, den »ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden« zu verlassen. Sie fühlten sich unfrei und unterdrückt. Sie hoffen im Westen die Freiheit zu finden.
Viele Menschen drüben denken wie die Strelzyks und die Wetzels, viele würden über die Grenze wechseln, hätten sie die freie Wahl – gäbe es nicht Mauer und Minen, Stacheldraht und Selbstschußanlagen. Aber nicht alle. »Wir vergessen manchmal«, schrieb meine Kollegin Eva Windmöller 1 , zwei Jahre lang Korrespondentin des »Stern« in der DDR, »daß sich die Mehrheit der 17 Millionen Menschen mit der ihr aufgezwungenen Gesellschaftsordnung arrangiert hat. Den meisten ist die DDR Heimat geworden – so wie sie ist, so verbesserungsbedürftig wie sie ist.«
JP
Tagsüber war es drückend schwül, so daß empfindliche Leute Kopfschmerzen bekamen. Am späten Nachmittag strömte eine Kaltfront aus Norden ein und schob die warmen Luftmassen gegen die Berge des Thüringer Waldes. Am frühen Abend entlud sich ein heftiges Gewitter. Erst quirlten Windböen kleine Schaumkronen auf das Wasser der Saale; dann drückten schwere Regengüsse das noch nicht abgeerntete Korn auf den Feldern platt; dann fuhr der Sturm in die hohen Fichtenwälder, und an der »Staatsgrenze West« spaltete ein Blitz eine meterdicke deutsche Eiche – nicht weit vom Minengürtel entfernt.
Ebenso schnell, wie es gekommen war, legte sich das Unwetter. Blitz und Donner zogen über die Berge ab. Zurück blieb ein blanker, fast wolkenloser Himmel. Jetzt, eine Stunde vor Mitternacht, ist es sternenklar. Ein schmaler Mond hängt über der kleinen Stadt Pößneck in Thüringen.
In einem Haus in der Tuchmacherstraße haben an diesem 15. September zwei Männer gespannt die Entwicklung des Wetters beobachtet und die Vorhersagen in Radio und Fernsehen verfolgt. Zuletzt meldet der »Zentrale Wetterdienst Potsdam« die weiteren Aussichten für die Deutsche Demokratische Republik: »Am Rande eines skandinavischen Tiefdruckgebietes wird weiterhin kalte Meeresluft polaren Ursprungs in unser Gebiet geführt. Bei klarem Himmel gehen die Temperaturen nachts bis auf drei Grad zurück. In Bodennähe kann örtlich leichter Frost bis minus zwei Grad auftreten ...«
Der eine Zuhörer sagt: »Das hört sich doch prima an. Ich glaube, heute Nacht kann es endlich losgehen.«
Der andere antwortet: »Es sieht gut aus, aber laß uns lieber noch mal den Wind kontrollieren.«
Die beiden Männer ziehen festes Schuhwerk und Pullover an, bevor sie das Haus verlassen. Der eine trägt eine braune Kunstlederjacke, der andere eine graue Windjacke. Sie fahren in einem blauen Wartburg mit weißem Dach, ostdeutsches Kennzeichen NK-9743, durch stille Straßen aus der Stadt hinaus und weiter über eine schmale Landstraße in Richtung Süden. Ein gleichmäßiger Wind hat die Fahrbahn schon wieder trocken gefegt. Hinter den Ortschaften Wernburg und Ludwigshof biegen sie nach links in einen holprigen Schotterweg ab. Im zweiten Gang kriecht der Wartburg die Bahrener Höhe hinauf. Unterhalb dieser 600 m hohen kahlen Bergkuppe erlöschen die Scheinwerfer des Wagens.
Die beiden Männer steigen aus und gehen die letzten Meter zu Fuß gegen einen starken, aber nicht stürmischen Wind an. Dann blicken sie über das in blasses Sternenlicht getauchte Land zu ihren Füßen. Im Nordwesten, in knapp 30 km Luftlinie, können sie noch den Widerschein der Lichter von Weimar erkennen. Genau im Norden, gut 20 km entfernt, liegt Jena. Rechts daneben, im Nordosten, die Bezirksstadt Gera. Im Süden sind nur vereinzelte Lichtpunkte auszumachen; sonst zeichnet sich in dieser Richtung nur dunkle Landschaft unter dem helleren Himmel ab, sanfte Höhenzüge, Wälder und Felder – das südliche Grenzgebiet der Deutschen Demokratischen Republik.
Der Mann mit der Kunstlederjacke befeuchtet seinen rechten Zeigefinger mit Spucke und hält ihn prüfend hoch. Der andere wirft ein paar helle Wollfäden in die Luft. Beide beobachten im Schein einer Taschenlampe, in welche Richtung die Fäden davongetrieben werden. Dann leuchten sie auf einen einfachen Kompaß. Der Wind weht aus Nord-Nord-Ost nach Süd-Süd-West – genau in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Die Windgeschwindigkeit, so schätzen die beiden Männer, beträgt etwa 30 bis 40 Stundenkilometer. Sie sind mit ihrem Test zufrieden. Der mit der Kunstlederjacke sagt: »Vom Startplatz aus müßten wir nach 20 bis 30 Minuten Flugzeit drüben sein.«
Es ist kurz vor Mitternacht. Ein ganz gewöhnlicher Sonnabend geht in beiden Teilen Deutschlands zu Ende, keine besonderen Vorkommnisse in Ost und West.
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