Jørgen Gunnerud
Kommissar Moen saß in der Vermisstenabteilung der Osloer Polizei. Die Abteilungschefin legte ihm einen Ordner auf den Tisch.
»Wir möchten, dass Sie sich das mal ansehen«, sagte sie und ging hinaus.
Er öffnete den Ordner und las: »Linn Fostervoll. 37 Jahre. 1,67 Meter groß. Schlank. Kurzes und fülliges, mittelblondes Haar. Kleidung: enge Jeans, geblümte Tunika, kurze dunkle Lederjacke. Flache braune, halbhohe Stiefel.«
Moen studierte eine Reihe von Familienfotos, die eine schlanke, fast magere Frau zeigten, wobei er sie in Gedanken als sportlich, athletisch und eigentlich etwas jungenhaft charakterisierte.
Er konzentrierte sich auf die grundlegenden Tatbestände. Ihre zwölfjährige Tochter war die Letzte, die Linn Fostervoll gesehen hatte. Die Mutter hatte sie am Dienstag, dem 28. Mai um 8.45 Uhr an der Ruseløkka Schule abgesetzt. Nach Aussage Linns engster Angehöriger hatte sie die Angewohnheit, sich jeden Monat einen Tag freizunehmen, gern einen Dienstag, um Lebensmittel im Nachbarland einzukaufen. Sie war sparsam.
Am 30. Mai hatte ein älteres Ehepaar den Lensmann in Bjørkelangen angerufen und einen roten Opel Corsa gemeldet, der seit drei Tagen auf einem Parkplatz an der Landstraße 21 stand, gleich neben seinem Ferienhaus. Der Lensmann hatte angekündigt, sich bei nächster Gelegenheit um die Sache kümmern zu wollen, doch hatten seine Alarmglocken geläutet, als er hörte, dass der Wagen nicht abgeschlossen war und eine Damenhandtasche auf dem Vordersitz lag.
Als die Polizei zum Fundort gekommen war, hatte es so ausgesehen, als hätte die Autobesitzerin nur mal eben den Wagen verlassen. Die Autoschlüssel hatten gefehlt, doch die Handtasche war da gewesen, und im Portemonnaie hatte alles noch dringesteckt: Geld, Karten und Quittungen vom Olaf-Thon-Shoppingcenter in Charlottenberg, Schweden. Im Kofferraum hatten die Einkäufe gelegen. Moen warf einen Blick auf die Liste. Zu den Artikeln gehörten unter anderem vier Kartons Billigwein, weiß, eine halbe Flasche Gin und eine Flasche trockener Martini, zwei Stangen Marlboro light, außerdem Hühnerfilet, Entenbrust, Hamburger, Maiskonserven und Süßigkeiten.
Moen sah von den Unterlagen auf. Er wusste, dass dies praktisch alles war, was die gründlichen, von den Medien aufmerksam verfolgten Ermittlungen ergeben hatten. Die Hinterlassenschaften einer gewöhnlichen norwegischen, alleinerziehenden Mutter auf einer Einkaufstour in Schweden. Niemand hatte sie in der Gegend gesehen. Sie war schlicht und einfach verschwunden. Am Ende hatte die Osloer Polizei das einzig Vernünftige getan und die Ermittlungen eingestellt, womit die Sache nun Teil des umfangreichen kriminalpolizeilichen Archivs über vermisste Personen war – über Personen also, die selten oder nie wieder auftauchten.
Unter normalen Umständen würde sich die Öffentlichkeit früher oder später mit dem Aufgeben der Polizei abgefunden haben, doch dieser Fall hatte eine zusätzliche Dimension: Linn Fostervoll war Journalistin und arbeitete beim Fernsehen. Sie war Redaktionsmitarbeiterin der Sendung Brennpunkt im NRK. Jetzt, da die Sache anscheinend eingestellt war, musste man kein Meteorologe sein, um den Mediensturm schon aufziehen zu sehen.
Knut Moen war beauftragt, sich dieser Sache anzunehmen. Plötzlich betrachtete er seinen neuen Aufgabenbereich aus einer anderen Perspektive und mochte nicht, was er da sah. Er fragte sich, wieso ausgerechnet er hier in der Abteilung für vermisste Personen saß, mit Linn Fostervolls Akte vor sich auf dem Tisch. War er nun derjenige, der alles ausbaden sollte?
Es gab einen Grund, weshalb er so dachte. Zwei Tage zuvor war er zu seinem Abteilungsleiter gegangen und hatte um einen Aufgabenbereich gebeten, der nicht so viele Reisen erforderte. Moens Verhältnis zum Abteilungsleiter war nicht besonders gut, und da seine Aversion allgemein bekannt war, hätte er die Reaktion, die darauf gefolgt war, vielleicht vorhersehen müssen.
Jetzt saß er hier, leicht verwirrt und in eine andere Abteilung versetzt, und fragte sich, ob er eine Dummheit begangen hatte, schob den Gedanken aber zur Seite. Mit einem etwas vagen Auftrag hatte man ihn weggeschickt: Er sollte die durchgeführte Ermittlung in der Fostervoll-Sache evaluieren. Im Zuge dessen war die Rede von Qualitätssicherung gewesen und, dass er der richtige Mann für diese Aufgabe sei. Moen dachte einen Augenblick an seinen alten Job, resignierte jedoch und machte sich über den Papierberg her.
Der erste Schritt der Ermittler hatte darin bestanden, einen Zeitpunkt einzukreisen. Wann hatte sie den Wagen verlassen? Offenbar hatte sie sich nicht die Zeit genommen, in ein Café zu gehen. Es gab keine Quittungen, die das belegt hätten. Ging man also davon aus, dass sie ihre Einkäufe erledigt hatte und gleich wieder gefahren war, dann war sie wohl irgendwann gegen vierzehn Uhr auf dem Parkplatz angekommen. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt, so die Annahme, hatte sie angehalten und war aus dem Auto gestiegen, eine halbe Stunde Zeitpuffer für beide Wege mit eingerechnet. Das aufmerksame ältere Ehepaar hatte den Wagen zum ersten Mal am 28. Mai um achtzehn Uhr gesehen. Das Mobiltelefon in der Handtasche hatte für den Zeitraum, in dem sie sich in Schweden befunden hatte, keine Gespräche verzeichnet, und die unbeantworteten Anrufe aus der Liste gaben keine Anhaltspunkte und stammten von der Familie oder der Arbeitsstelle. Die kriminaltechnische Untersuchung hatte ansonsten nur einen Haufen vager Spuren ergeben.
Die Ermittlungen waren eine gut organisierte Zusammenarbeit des Lensmanns in Bjørkelangen und der Kripo in Oslo gewesen. Es war nicht zu leugnen, dass man in erster Linie an Selbstmord gedacht hatte. Jahr für Jahr gab es überaus raffinierte Inszenierungen, in denen sich die Verschwundenen zuerst in Luft auflösten, um dann an einem Baum oder in einem See aufgefunden zu werden. In Oslo konzentrierte man sich daher auf Verwandte, Freunde, Kollegen und medizinisches Personal.
Rasch las Moen das Vernehmungsprotokoll aus Oslo und konnte ebenso schnell zwei Dinge konstatieren: Erstens deutete bei Linn Fostervoll nichts auf eine Störung des psychischen Gleichgewichts hin. Weder ihre Verwandten noch ihr Hausarzt konnten diese Hypothese stützen. Der Gedanke, sie habe suizidale Tendenzen gehabt, wurde kategorisch abgewiesen. Einer ihrer Kollegen hatte es so ausgedrückt: »Dazu war sie viel zu glücklich mit sich selbst und ihrem Leben.« Moen betrachtete das Urteil ihrer Umgebung selbstverständlich mit einer gehörigen Portion Zweifel; manche Menschen waren komplizierter, als es den Anschein hatte.
Auf der anderen Seite hatte sie allerdings ebenso wenig einen Spaziergang durch den Wald gemacht, um über irgendetwas nachzudenken. Sie hatte gesagt, wo sie hinwollte, und getan, was sie tun wollte, doch die Ermittlungen waren durchgehend von einem bestimmten Ansatz geprägt: Die Vernehmungen hatten sich im Großen und Ganzen um Linn Fostervolls Psyche gedreht. Die Polizei hatte es nicht in Erwägung gezogen, dass sie Opfer einer kriminellen Handlung gewesen sein könnte. Aufgrund der Tatsache, dass ihre Sachen unberührt im offenen Wagen gelegen hatten, wurde die Möglichkeit osteuropäischer Straßenräuber ausgeschlossen.
Ansonsten hatten sich die Vernehmungen auf den Exmann, Sverre Midtsem jr., konzentriert. Es war nun einmal so, dass ein geschiedener Mann als möglicher Verdächtiger auf der Liste der Polizei hoch oben stand, und es gab statistische Belege, die diesen routinemäßigen Reflex erklärten. Dieser Exmann hatte allerdings ein hieb- und stichfestes Alibi. Während des relevanten Zeitraums war er mit einem Arbeitskollegen in Oslo gesehen worden. Da die Vernehmungen keinerlei sichere Anhaltspunkte ergeben hatten, stand die Suchaktion natürlich im Mittelpunkt. Es wurde gemutmaßt, sie hätte sich nach draußen begeben, einen Unfall erlitten, sich verletzt oder wäre im schlimmsten Fall überfallen worden. Der Lensmann in Bjørkelangen hatte mit Unterstützung von Experten der Kripo die Suche geleitet, an der eine große Mannschaft aus Angestellten der Kommune sowie freiwillige Organisationen und Hundestaffeln beteiligt gewesen waren. Gewässer wurden durchsucht, Felsspalten durchkämmt, jeder Stein wurde umgedreht. Auf Schritt und Tritt wurde alles genauestens von Linn Fostervolls Kollegen aus den Medien verfolgt. Ohne Ergebnis. Man fand keinen Schuh, kein einziges Kleidungsstück. Nichts. Nur aufgrund des Mediendrucks wurde eine Woche länger gesucht, als eigentlich zweckdienlich gewesen wäre, doch dann war Schluss. Auf einer Pressekonferenz Ende Juni hatte der Lensmann in Bjørkelangen das Handtuch geworfen.
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