Marie Louise Fischer
Die Frau mit dem zweiten Gesicht
SAGA Egmont
Die Frau mit dem zweiten Gesicht
Die Frau mit dem zweiten Gesicht (Marie Forester, die Frau mit dem zweiten Gesicht)
Copyright © 2017 by Erbengemeinschaft Fischer-Kernmayr, ( www.marielouisefischer.de)
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Originally published 1988 by Lübbe Verlag, Germany
Genehmigte eBook Ausgabe für Lindhardt og Ringhof Forlag A/S
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ISBN: 9788711719053
1. Ebook-Auflage, 2017
Format: EPUB 3.0
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Sie rannte wie gehetzt durch die engen Straßen Alt-Schwabings. Die Polizeistunde war vorbei, und nur aus wenigen Gaststätten drang noch Licht. Die Laternen schufen Inseln fahler Helligkeit. Dazwischen war es nachtdunkel.
Ein Betrunkener kam ihr schwankend und grölend entgegen. Sie beachtete ihn nicht, stürmte an ihm vorbei, hörte nicht, wie er hinter ihr herfluchte.
Ihre Turnschuhe machten kaum ein Geräusch auf dem unebenen Pflaster. In der Tasche ihres offenen Parkas steckte eine Taschenlampe. Sie hielt sie umklammert, damit das schwere Gewicht im Laufen nicht gegen ihren Schenkel schlug.
Sie überquerte den Nikolaiplatz, bog zielsicher in eine Gasse ein, die noch schmaler war als die anderen. Das hohe Brettertor, das nachts gewöhnlich geschlossen war, stand halb offen. Sie schlüpfte hinein. Die Laterne am Ende des langgestreckten Hofes brannte nicht. Ohne stehen zu bleiben, zog sie ihre Taschenlampe heraus und knipste sie an. Der Lichtkegel huschte über die Laderampe, die Hintertüren, den asphaltierten Boden.
Unter der zersplitterten Laterne fand sie ihn. Er lag zusammengekrümmt in einer Lache von Blut. Sein Gesicht war schneeweiß.
Sie kniete sich neben ihn, rief: „Günther, Günther, hörst du mich? Ich bin’s, Marie! Ich bin bei dir!“
Aber er war nicht bei Bewußtsein.
Blut drang aus seinem Bauch. Ohne zu überlegen zog sie das Baumwollnachthemd, das sie unter ihrem Parka trug, aus der langen Flanellhose, nahm die Zähne zur Hilfe und riß einen breiten Streifen ab. Sie öffnete seine Jeans, fand die klaffende Wunde, verband sie, so gut es eben ging.
Dann sprang sie auf und trommelte mit beiden Fäusten gegen das Fenster zum Hof, unter dem er lag. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich drinnen etwas rührte. Sie war nahe daran, das Glas mit der Taschenlampe zu zerschlagen, als endlich jemand reagierte.
Eine Männerstimme meldete sich, dumpf und abweisend. „Schleich dich! Wir san geschlossen!“
„Sie müssen aufmachen“, schrie sie, „sofort! Es ist etwas passiert! Ein Mann ist schwer verletzt!“
Das Fenster wurde geöffnet, und der Kopf eines kahlen älteren Mannes zeigte sich über dem Sims.
Marie richtete den Schein der Taschenlampe auf den Verwundeten. „Sie müssen den Notdienst anrufen! Bitte! Schnell!“
„Auch das noch!“ sagte der Wirt und verzog sich.
Marie hörte ihn telefonieren. Sie kniete sich wieder, versuchte festzustellen, ob der Verletzte noch atmete, machte sich währenddessen heftige Vorwürfe, weil sie nicht als erstes jemanden in der Wirtschaft alarmiert hatte, statt sich um Günther zu kümmern. Sie hatte einmal mehr nur ihren Instinkt und nicht ihren Verstand sprechen lassen.
Der Notverband, den sie ihm angelegt hatte, war schon wieder blutdurchtränkt. Sie fragte sich, ob er überhaupt etwas genutzt hatte. Ihre Torheit schmerzte sie.
„Halte durch, Günther!“ flüsterte sie und hielt seine eiskalte Hand. „Sie kommen schon, dich zu holen. Bald ist ein Arzt bei dir. Deine Wunde wird versorgt, und du wirst in ein sauberes weißes Bett gepackt.“
Der Signalton des Martinshorns war aus der Ferne zu hören, näherte sich rasch.
Marie stand auf. Sie konnte hier nichts mehr tun. Es war besser, sie machte sich auf und davon.
In diesem Augenblick erlosch ihre Taschenlampe; die Batterie spielte nicht mehr mit. Verwirrt blieb Marie stehen. Der Hof war jetzt völlig dunkel, bis auf den schwachen rötlichen Lichtschein, der aus dem Fenster des Wirtshauses drang. Der Ausgang war nicht mehr zu erkennen. Dennoch wagte sie einen Schritt in die Richtung, in der sie ihn vermutete.
„He, Fräulein, bleiben sie stehen!“ dröhnte die Stimme des Wirtes. Er war wieder am Fenster erschienen, ohne daß Marie es bemerkt hatte, und mußte ihre Fluchtbewegung wahrgenommen haben. „Das könnte Ihnen so passen, mich mit den Bullen allein zu lassen!“
Sie begriff, daß es jetzt höchste Zeit war, sich abzusetzen. Ihre Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt, und sie spurtete auf das offene Tor zu.
Aber da flammten auch schon die Scheinwerfer des Polizeiautos vor ihr auf. Sie blieb geblendet stehen. Der Wagen versperrte den Ausgang, fuhr langsam auf sie zu.
„Einen Arzt!“ schrie sie. „Er verblutet!“
Die Scheinwerfer erfaßten jetzt den Verletzten unter der zerbrochenen Laterne. Das Auto bremste, die Türen gingen auf, links und rechts sprang ein uniformierter Mann heraus.
Der eine beugte sich über den Verwundeten. „Den hat’s schwer erwischt“, kommentierte er, ohne sonderlich beeindruckt zu sein.
„Er muß ins Krankenhaus!“ verlangte Marie und stieß unwillkürlich mit dem Fuß auf. „Sofort!“
Der Polizeibeamte richtete sich auf. „Der Notarztwagen kommt gleich hinter uns“, sagte er, und sein Ausdruck veränderte sich, als er Marie genauer wahrnahm.
Sein Kollege hatte ein Notizbuch aufgeschlagen. „Ihre Personalien, bitte!“
„Aber die sind doch jetzt ganz unwichtig!“ entgegnete Marie.
„Für uns nicht!“ Der Polizist zückte einen Kugelschreiber. „Also …“
„Ihr müßt zurücksetzen!“ rief ein Mann von der Straße her. „Sonst können wir nicht rein!“
„Na also“, sagte der Polizist, der Günther untersucht hatte, „da ist der Onkel Doktor schon, Fräulein.“ Zu seinem Kollegen gewandt, setzte er hinzu: „Ich fahrraus.“ Er klemmte sich auf den Fahrersitz und startete den Motor.
Als der Wagen zurücksetzte, überlegte Marie, ob sich ihr jetzt nicht eine letzte Gelegenheit bot zu verschwinden.
Aber der Polizist mit dem Notizbuch schien ihre Gedanken zu erraten. „Sie bleiben!“ sagte er barsch. „Sie heißen?“
Paul Sanner hatte auf der Heimfahrt von einer Party zum Olympiagelände den Polizeifunk eingeschaltet. Obwohl er nicht vorhatte, noch zu arbeiten, hielt er es für wichtig, stets auf dem laufenden, ja, besser noch im voraus orientiert zu sein. Er war Journalist, und das war für ihn mehr als ein Job, sondern ein Beruf, der seinen natürlichen Neigungen und, wie er überzeugt war, auch seinen Fähigkeiten entsprach. Trotzdem war es ihm noch nicht gelungen, eine feste Anstellung bei einer Zeitung oder, was ihm noch viel erstrebenswerter schien, bei einem Magazin zu erreichen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als freiberuflich für verschiedene Agenturen und Blätter zu schreiben, wie es sich eben ergab. Aber er war überzeugt, mit seinen 25 Jahren am Beginn einer großen Karriere zu stehen.
Die Nachricht, daß ein Mann in einem Winkel Alt-Schwabings niedergestochen worden war, erreichte ihn auf der Leopoldstraße. Sie hätte ihn an sich nicht sonderlich interessiert, denn dergleichen Zwischenfälle sind in jeder Großstadt gang und gäbe. Aber daß es eine junge Frau war, die das Verbrechen gemeldet hatte, ließ ihn aufhorchen. Zudem war er weder müde noch angetrunken, und der Tatort lag nur wenige Minuten entfernt. Kurzentschlossen bog er am Platz ,Münchener Freiheit‘ nach rechts ab und fuhr mit erhöhter Geschwindigkeit – denn die glaubte er sich bei der gegebenen Situation und angesichts seines Presseausweises erlauben zu können – zu der angegebenen Adresse.
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