Der erwähnte John Glad und seine Schwester Merete sind die Erben eines recht bekannten Mannes aus Oslo, der in den sechziger und siebziger Jahren als Bauunternehmer tätig war. Das Erbe besteht aus einem großen Eckhaus im Bauhaus-Stil neben dem Hotel. Die Wohnungen sind vermietet, und die beiden beziehen daraus wohl ihr Einkommen. Sverre Midtsem kennt sie seit der Kindheit. Merete Glad und Linn Fostervoll befreundeten sich auf der Oberschule, und so lernten sich Sverre und Linn kennen. Als sie sich trennten, arbeitete Monica Midtsem bereits im Hotel. Linn behielt die Wohnung des Paares im Eckhaus sowie das gemeinsame Kind. Ihre Wohnung hatten sie also von ihren Freunden gemietet, dem Geschwisterpaar. Sverre Midtsem zog schließlich zu seiner neuen Frau Monica.« Marit Gaasland blickte unsicher zu Astrid Bredeveien. »Bin ich zu ausführlich? Ich versuche nur zu zeigen, wie diese Menschen alle miteinander verbunden sind. Alle, mit denen ich gesprochen habe, sagen außerdem, dass Merete Glad die einzige Freundin war, zu der Linn Fostervoll eine längerfristige Beziehung unterhielt.«
»Was ist mit Sverre Midtsems Alibi?«, fragte Moen. »Ich interessiere mich natürlich sehr für ihn und seinen Kumpel.«
»Zum Zeitpunkt von Linns Verschwinden haben Sverre Midtsem und John Glad einen Nachlass abtransportiert. Das war im Gimleveien in Frogner. Der Auftraggeber und sein Sohn haben sie auf Bildern wiedererkannt, und für den Zeitpunkt des Abtransports haben wir mit der Rechnung einen schriftlichen Beleg. Midtsems Tochter war am selben Tag während ihrer großen Pause im Hotel und hat mit Oma und Stiefmutter gesprochen. Alle waren also an Ort und Stelle in der Stadt, weshalb ich der Meinung bin, wir müssen uns woanders umsehen. Dazu würde ich auch gerne noch etwas sagen.«
»Sollte Moen also recht haben?«, murmelte Astrid Bredeveien. Sie sah mutlos aus, doch dann lächelte sie. »Endlose Wälder und Sümpfe auf der einen Seite und hieb- und stichfeste Alibis auf der anderen. Vielleicht haben wir uns zu viel zugemutet? Aber entschuldigen Sie, Marit. Was wollten Sie sagen?«
»Linn Fostervoll hatte ja auch noch eine eigene Familie. Die Eltern haben vor einigen Jahren ihre Wohnung in Skillebekk verkauft und sind nach Spanien gezogen. Ich werde später noch mit ihnen telefonieren. Wenn sie nach Norwegen kommen, wohnen sie bei ihrem Sohn, der ein großes Haus auf Nesøy hat. Er ist Anwalt und verwaltet die Hinterlassenschaften seiner Schwester treuhänderisch für deren Tochter.« Marit Gaasland blickte von ihren Unterlagen auf. »Und hier möchte ich gerne ein bisschen mehr erfahren. Ich bin dem Vater des Kindes, Sverre Midtsem, etwas auf den Pelz gerückt, was die Million auf Linns Konto betrifft. Das hat er ja in der Fernsehsendung behauptet. Dabei habe ich erfahren, dass der Onkel des Mädchens, also Linns Bruder, der Nachlassverwalter ist. Das Mädchen hatte ihn sagen hören, die Mutter habe ihr eine größere Geldsumme vermacht, und das hat sie dann gleich ihrem Vater erzählt. Sie glaubte, es sei eine Million. Ich habe Linns Bruder angerufen, aber er war nicht bereit, darüber zu sprechen. Ich brauche wohl noch etwas Zeit, um der Sache auf den Grund zu kommen. Ich habe auch ein Treffen mit den Leuten von der Brennpunkt -Redaktion im NRK vereinbart, aber das findet nicht vor Montag statt.«
»Welchen Eindruck hatten Sie von den Leuten, mit denen Sie gesprochen haben, mal abgesehen davon, dass sie sich alle nahestanden?« Astrid Bredeveien blickte wieder auf die Uhr, und Marit Gaasland verstand den Wink. Sie fasste sich kurz:
»Der Exmann war sehr nett. Mit ihm konnte ich ganz gut reden. Mit seinem Kompagnon John Glad war es allerdings ein wenig unangenehm. Diese Antiquitätenhändler sind ja ohnehin meist etwas schlampig, doch Glad war für den vornehmen Osloer Westen erst recht ein bisschen zu ungepflegt. Monica Midtsem ist Hotelfrau durch und durch, glatt wie Teflon. Von ihr kriegt man nichts umsonst. Merete Glad wirkt sportlich und durchtrainiert. Etwas zynisch.«
Astrid Bredeveien stand auf.
»Dann treffen wir uns hier am Dienstagmorgen wieder und entscheiden dann, wie weit wir diesen Fall noch weiter verfolgen. Und Ihnen beiden wünsche ich ein schönes Wochenende.«
Moen spazierte durch den Ortskern von Bjørkelangen. Auf der Einkaufsstraße war kaum jemand unterwegs. Die Trostlosigkeit wurde von Bjørkelangen Buch & Papier unterstrichen, dessen geschlossene Geschäftsräume mit eingeschlagener Tür hinterlassen worden waren. Das Büro des Lensmanns lag hinter dem Rimi-Supermarkt gleich neben dem Romerike Medienhaus und teilte sich die Räume mit einer Zahnarztpraxis.
Der Lensmann begrüßte ihn am Empfang. Sie stellten einander vor, während der Lensmann ihn in sein Büro führte. Ein leicht mürrischer Zug lag auf dem Gesicht des Lensmanns, als er sich setzte und eine Akte öffnete.
»Zwei meiner Beamten haben mir erklärt, worauf Sie hinauswollen. Anfang der Woche haben die beiden Sie ja schon herumgefahren.« Er faltete eine Landkarte auseinander und nahm sie in Augenschein. »Es wäre wohl passender gewesen, wenn Sie sich direkt an mich gewandt hätten.«
Moen fühlte sich unwohl. Um weiterzukommen, war er auf die hiesige Dienststelle des Lensmanns angewiesen. Er erklärte die Umstände, die zu der Fahrt geführt hatten. Als Entschuldigung benutzte er den Ausdruck: »Mitgerissen werden«. Das Gesicht des Lensmanns von Bjørkelangen verdeutlichte, was er von Leuten hielt, die sich mitreißen ließen und den Dienstweg vernachlässigten.
Moen schwieg einen Augenblick und begriff schließlich, seine Initiative könnte als Kritik an der von der lokalen Polizei durchgeführten Suchaktion und als listiges Manöver verstanden werden, ihr hinter ihrem Rücken in die Karten zu schauen. Er versuchte es erneut.
»Ich weiß sehr genau, dass die Suche nach Linn Fostervoll nach allen Regeln der Kunst und nach aktuellem Kenntnisstand durchgeführt wurde, aber ich bin nun einmal abgestellt worden, um die ganze Sache noch mal zu durchdenken. Als Ihre Beamten auftauchten, war ich eigentlich schon auf dem Sprung zu Ihnen, aber dann konnte ich der Versuchung nicht widerstehen.« Moen hörte selbst, wie lahm das klang, und breitete die Arme aus.
»Zum ersten Mal in meiner Karriere wurde ich gebeten, ein Gedankenspiel durchzuführen. Möglicherweise ist es mir schwergefallen, die Aufgabe ernst zu nehmen. Das ist der eigentliche Grund für die nicht ganz korrekte Vorgehensweise. Ich habe gespielt, und ich bedaure es zutiefst, wenn Sie denken, ich würde ...«, Moen hielt einen Augenblick inne, »wenn Sie denken, dass ich Ihnen hinter Ihrem Rücken in die Karten schaue.« Abermals breitete er die Arme aus. »So, jetzt ist es gesagt.«
Der Lensmann lehnte sich zurück.
»Wir haben schon eine Menge Arbeit in diesen Fall investiert und sind auch nicht sonderlich darauf erpicht, alles noch mal durchzugehen, aber es wäre schon besser gewesen, wenn man uns von Anbeginn an dem ganzen Prozess beteiligt hätte.«
»Das verstehe ich gut, aber der ganze Auftrag war sozusagen inoffiziell.«
»Heute sind Sie hier, weil Sie um Unterstützung bitten möchten, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, die Verwendung öffentlicher Mittel zu rechtfertigen, wenn der ganze Auftrag inoffiziell ist. Haben Sie Rückendeckung von der Kripo?«
Moen überlegte. Hatte er das? Er beschloss, Ja zu sagen.
Der Lensmann nickte und deutete auf die Karte.
»Ich kenne Ihre Überlegungen. Wir sind da oben schon gewesen und haben uns die Gegend angesehen. Hört sich wirklich nach einem Schuss ins Blaue an. Es kann schon so vonstattengegangen sein, wie Sie mutmaßen, aber bedenken Sie, dass es in der Kommune viele Kilometer einsamer Waldwege gibt. Meilenweit erstrecken sich vom Fundort des Wagens Sümpfe und Seen in alle Himmelsrichtungen. Wir suchen nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Daher muss ich auch fragen, wieso Sie nun ausgerechnet auf diesen Ort gekommen sind?« Moen zuckte mit den Schultern.
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