1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Am Dienstagmorgen saß er erschöpft und kummervoll im Büro und hatte seine Hände über die Augen gelegt. Die Zeitungen hatte er bereits durchforstet.
»Zehn Øre für Ihre Gedanken!«
Moen nahm die Hände von den Augen und schreckte auf. Astrid Bredeveien beugte sich über den Schreibtisch.
»Vor zehn Minuten hat unsere Besprechung begonnen.«
Marit Gaasland grinste Moen breit an und blickte auf ihre Unterlagen.
»Am Sonntag haben Linn Fostervolls Eltern angerufen. Sie waren in Oslo. Sie hatten sich in ein Flugzeug gesetzt, um ihre Enkelin zu sehen, bevor der Winter richtig einsetzt. Wir haben uns gestern getroffen und lange unterhalten. Über zwei Stunden, um genau zu sein. Herr Fostervoll war sehr redselig.« Marit Gaaslands Lachfältchen kamen erneut zum Vorschein. »Ein Charmeur der alten Schule. Wir haben uns gut verstanden. Linns Mutter hat indessen nicht so viel geredet. Sie wirkte müde und etwas unglücklich. Das Verschwinden ihrer Tochter geht ihr wohl näher als ihrem Mann. Überraschend fand ich, dass sie, zwei Tage bevor sie zu ihrem Sohn Thomas nach Nesøy zogen, im Hotel ihres früheren Schwiegersohns, Sverre Midtsem jr., gewohnt haben.«
Marit Gaasland blätterte ein wenig in ihren Papieren. »Ich weiß nicht so recht, welche Relevanz das für Linns Verschwinden hat. Ihr Vater hat sich sehr für ihr Verhältnis zu ihrem ehemaligen Schwiegervater, Sverre Midtsem sr., interessiert. Er hat auch viel über die Beziehung zwischen Vater und Sohn Midtsem gesprochen.«
»Wie lautet die Kurzversion?«, fragte Astrid Bredeveien.
»Er zeichnet kein besonders rosiges Bild vom Schwiegervater seiner Tochter, einem Mann, der seinen Sohn vor allen möglichen Leuten gedemütigt hat. Linn hingegen war sein Augenstern. Ob das jetzt Teil des demütigenden Verhaltens oder ob Sverre sr. wirklich so begeistert von seiner Schwiegertochter war, ist nicht so wichtig. Herr Fostervoll hat seinen Schwiegersohn wie folgt beschrieben: ein kultivierter, angenehmer Mann und seinem Kind ein guter Vater, aber mit Linns Familie sind sie nie richtig warm geworden. Die ausführliche Fassung hab ich hier.« Marit Gaasland hob ihren Papierstapel an.
Astrid Bredeveien entgegnete:
»Lassen Sie Knut eine Kopie zum Lesen zukommen. Ich hab in einer Viertelstunde noch einen Termin. Wie sieht’s in Bjørkelangen aus?«
»Morgen geht’s los«, sagte Moen. Er skizzierte kurz seine Planungen mit dem Lensmann in Bjørkelangen, ließ jedoch die Unstimmigkeiten unter den Tisch fallen, die während der Unterredung aufgekommen waren.
Astrid Bredeveien nickte kurz und sagte dann:
»Könnten Sie bitte einen Moment rausgehen, Marit? Ich muss mit Knut kurz unter vier Augen reden, bevor ich gehe.«
Marit Gaasland erhob sich.
»Dann gehe ich in der Zwischenzeit Kaffee holen. Soll ich Ihnen auch was mitbringen, Knut?«
»Ja, danke«, erwiderte er, und sie verschwand.
Astrid Bredeveien nahm ihre Brille ab und ließ sie am Seniorenband herabhängen. Sie war eine Frau in den Fünfzigern, konservativ gekleidet und mit hochgestecktem Haar. Bei der Kripo hatte man ihr den Spitznamen Frau Vermisste Personen verpasst. Sie blickte ihn ernst an.
»Ich habe Sie hier noch nicht mal richtig willkommen geheißen«, sagte sie. Moen wartete auf die Fortsetzung und wusste selbst nicht, was auf ihn zukam.
»Ist irgendwas nicht in Ordnung? Sie sehen furchtbar erschöpft aus. Geht es Ihnen nicht gut?«
»Ich hab nur ein paar Probleme an der Heimatfront«, entfuhr es ihm.
»Ernsthaft?«
»Ich weiß nicht. Wir werden sehen.«
»Ist es so schlimm, dass Sie deswegen möglichst wenig Verantwortung übernehmen möchten? Ich weiß ja nicht, wieso Sie hierher versetzt wurden.«
»Ich habe um einen Dienst ohne Reisen gebeten, um zu sehen, ob sich die Situation zu Hause verbessert.«
Astrid Bredeveien zog eine Grimasse. »Wissen Sie, momentan wächst mir der Verwaltungskram etwas über den Kopf. Ich hätte große Lust, Ihnen die Verantwortung für diesen Fall zu überlassen. Um es geradeheraus zu sagen: Wir stehen in dieser Fostervoll-Sache unter Druck. Präsidium und Ministerium rufen fast täglich an. Als ich das hier auf den Tisch bekam, habe ich meinen Augen und Ohren nicht getraut.« Sie blickte zur Tür, wo Marit Gaasland gesessen hatte. »Ich habe wirklich fleißige Leute hier in der Abteilung, aber alle, die weder eifersüchtig noch neidisch sind, wissen, dass Sie der beste Spürhund in Norwegen sind. ›Der Beste auf der Piste.‹ Haben Sie das nicht immer selbst gesagt?« Frau Bredeveien sah ihn flehend an. »Marit ist eine richtig tüchtige junge Frau, ich habe großes Vertrauen zu ihr. Ich hätte mir die Zeit nehmen müssen, ihre Unterlagen durchzulesen und ihr ein Feedback zu geben, aber zurzeit kriege ich keine Ruhe. Könnten Sie das übernehmen, oder wächst Ihnen das Leben gerade über den Kopf?«
»Ich werde mein Bestes tun.«
»Vielen Dank, da bin ich sehr beruhigt.«
*
Marit Gaasland verzog das Gesicht.
»Ich komme mir wie ein Trottel vor. Quatsche da über Linn Fostervolls Vater. Ich bin gar nicht zu den einzelnen Punkten gekommen, doch Astrid wirkt so ...« Sie zögerte. »Beinahe uninteressiert, auf jeden Fall ziemlich gestresst. Möchten Sie sich das jetzt durchlesen?«
Moen lächelte ihr aufmunternd zu. »Erzählen Sie mir erst mal von den einzelnen Punkten.«
»Der wichtigste Punkt von Herrn Fostervoll war, dass das Leben von Sverre Midtsem jr. nach dem Tod seines Vaters und dem Verschwinden seiner Exfrau so viel angenehmer wurde, dass das an sich schon beunruhigend war.«
Moen fragte, womit Linns Vater solch eine Ansicht begründete, und bekam zur Antwort:
»Linn Fostervoll hatte unmittelbar nach der Scheidung versucht, Sverre Midtsem jr. vor Gericht auf eine Million Schadensersatz zu verklagen. Ihre Begründung war, dass sie nun mit leeren Händen auf dem Immobilienmarkt dastünde, denn aufgrund der Tatsache, dass sie bei seinen Freunden, dem Geschwisterpaar Glad, zur Miete gewohnt hätten, hätten sie in der Ehe kein Wohnkapital erarbeitet. Linns Vater meinte, sein Sohn Thomas, also Linns Bruder, der als Anwalt für Immobilienangelegenheiten arbeitet, habe sie leider auch zu dieser Klage ermuntert. Sie hatte dann einen den ›Dachs‹ genannten Anwalt angeheuert, der dafür bekannt ist, zuzuschnappen und nicht eher lockerzulassen, bis die Knochen durchgebissen sind. Die Sache war natürlich hoffnungslos. Fostervoll war früher selbst Anwalt und hatte seiner Tochter von einer Klage abgeraten, doch ohne Erfolg. Das Gericht hat die ganze Sache abgewiesen, und Linn musste dem ›Dachs‹ ein ordentliches Honorar zahlen.
Sie hatten selbst auch ein paar Probleme mit Linn. Als sie das Haus in Norwegen verkauften und nach Spanien zogen, hatte Linn um einen Vorschuss auf das Erbe gebeten. Die Eltern hingegen meinten, dass sie in einer guten Gegend billig zur Miete wohnte, und erwähnten ihre Unterstützung bei der Renovierung von Küche und Bad. Der Vater hatte gemeint, sie möge doch warten, bis die Zeit für das Erbe ›reif sei‹, wie er sich ausdrückte.« Marit Gaasland entwarf also über den Vater das wenig schmeichelhafte Bild einer Frau, die mit ihren Verwandten nicht zimperlich umging, um sich deren Geld anzueignen.
An dieser Stelle der Darlegungen von Linn Fostervolls Vater fiel der Verdacht auf den Schwiegersohn. Sverre Midtsem sr. hatte jahrelang lauthals verkündet, er würde gern das ganze Hotel über den Kopf seines Sohnes hinweg verkaufen, sofern ihm dies freistünde, um dann das Geld so zu verteilen, dass Linn und sein Enkelkind ihren Unterhalt dadurch gut bestreiten könnten. Allein wegen seiner Frau, Sverres Mutter, stand es ihm nicht frei, da sie die Hälfte der Aktien kontrollierte, die gemäß den Bestimmungen der Gesellschaft nicht ohne Einwilligung des anderen Aktieninhabers verkauft werden durften. Linns Vater war der Ansicht, das Verhältnis seiner Tochter zu ihrem Schwiegervater sei fast schon unnatürlich gewesen, so dass Sverre Midtsem jr. die Situation als bedrohlich auffassen musste. Was schließlich würde geschehen, wenn die Mutter von Sverre jr. starb und der Vater mit dem Gesamtvermögen dasaß? So dachte Linn Fostervolls Vater. Er stellte seinem Schwiegersohn demnach ein gutes Zeugnis als Mensch aus, war jedoch der Ansicht, Sverre Midtsem jr. hätte gute Gründe gehabt, sich seiner Exfrau Linn zu entledigen.
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