Doris Strelzyk antwortet: »Du bist ja verrückt, jetzt, wo wir alles fast fertig haben ...? Und überhaupt, wie willst du das denn anstellen, mit den Kindern? Das geht doch überhaupt nicht!«
Peter Strelzyk sagt: »Ich weiß es auch noch nicht, aber wenn ich mir etwas vornehme, dann finde ich auch eine Lösung, das weißt du. Mir wird schon etwas einfallen.«
Doris Strelzyk schüttelt nach diesem Gespräch den Kopf und geht zu einem Fortbildungskurs ihres Betriebes, der Kreissparkasse Pößneck.
Die junge Frau glaubt, daß ihr Mann nur Spaß gemacht habe. Aber dennoch – sie ertappt sich dabei, daß sie an diesem Tag und in der nächsten Zeit oft an dieses Gespräch denkt. »Nach dieser ersten, eher beiläufigen Bemerkung von Peter habe ich auch zum erstenmal darüber nachgedacht, was das eigentlich für ein Unding ist: Da gibt es kaum 30 Kilometer von Pößneck entfernt ein anderes Deutschland, und wir dürfen da nicht hin. Unser eigener Staat hindert uns daran. Noch nicht mal anschauen dürfen wir uns, was da eigentlich anders ist als bei uns. Warum eigentlich nicht?«
Doris Strelzyk ist eine gepflegte junge Frau, schlank, schwarzhaarig, kaum Make-up, ein wenig Lippenstift, leicht nachgezogene Augenbrauen. Ihr Haar schneidet sie oft selber, »weil man sich beim Friseur in Pößneck endlos lange vorher anmelden muß«. Manchmal näht sie sich auch ihre Kleider selbst, nach Schnittmuster-Vorlagen, die Bekannte aus dem Westen mitbringen. »Das ändere ich dann immer ein bißchen nach meinen eigenen Vorstellungen ab.« Sie interessiert sich fürs Theater. »Die Zeit beim Arbeiter-Theater in Pößneck hat mir sehr viel Spaß gemacht.« Sie liest historische Bücher, zuletzt über die Bauernkriege, aber auch Krimis von Edgar Wallace. »Der Frosch mit der Maske« hat ihr am besten gefallen.
Bisher ist nicht viel Aufregendes im Leben von Doris Strelzyk geschehen. Ihr Vater, er war Schlosser im Stahlwerk Max-Hütte, hat dafür gesorgt, daß sie nach der Schule eine gute Ausbildung bekam. Sie machte eine kaufmännische Lehre und wurde Saehbearbeiterin bei der Kreissparkasse in Pößneck. Mit ihrer Arbeit ist sie zufrieden. Sie führt selbständig Konten, macht Zinsberechnungen, kommt gut mit Kollegen und Kunden zurecht. Ihr Lohn erscheint ihr allerdings manchmal niedrig. »Ich habe zwei Mark in der Stunde bekommen. Für diesen Stundenlohn kann man sich in der DDR eine Schachtel Zigaretten oder ein halbes Pfund Butter kaufen.«
Was sie besonders wurmt – ohne daß sie sich traut, darüber offen zu reden –, ist, daß männliche Kollegen »für genau dieselbe Arbeit fast das Doppelte erhalten«. Einerseits werde in der DDR immer wieder die völlige Gleichberechtigung der Frau proklamiert, andererseits gelte der Mann automatisch als »Haupternährer« und bekomme daher für dieselbe Arbeit viel mehr Lohn. »Komischerweise sind auch Junggesellen und nicht nur Familienväter im lohntechnischen Sinn ›Haupternährer‹.«
Eigentlich aber ist Doris Strelzyk mit ihrem Leben in der Kleinstadt Pößneck ganz zufrieden. Die Kinder sind schon aus dem Gröbsten heraus. Frank, der Älteste, macht sich sehr gut in der Ernst-Thälmann-Schule. Er ist technisch begabt wie sein Vater. In Mathematik und Physik bringt er immer Zweien nach Hause. In Russisch hat er eine Drei. Der Junge spielt Handball im Verein »Fortschritt Pößneck«, und bei den Blauhemden von der FDJ (Freie Deutsche Jugend) macht er auch mit. Er gehört zur Gruppe »Magnus Poser«.
Ihr jüngster Sohn, Andreas, hat auch schon die ersten Stationen sozialistischer Jugenderziehung durchlaufen. Er war als Kleinkind in der Kinderkrippe und später im Kindergarten. Er ist nervöser und hektischer als sein Bruder Frank. Eine Ärztin meint, das sei darauf zurückzuführen, daß er zu früh von der Mutter getrennt worden sei. Andreas ist unaufmerksam in der Schule, beim Fußballspielen paßt er besser auf. Er ist Außenstürmer der Knabenmannschaft von »Rotation Pößneck«.
Wenn Doris Strelzyk etwas an ihrem Leben stört, dann ist es der Gedanke, daß alles voraussichtlich so weitergehen wird wie bisher – und dabei ist sie doch noch eine junge Frau.
Bisher jedenfalls verlief in ihrem Leben ein Tag so gleichmäßig wie der andere: Um halb sechs aufstehen; Frühstück; Küßchen für den Ehemann; Klaps für die Kinder auf dem Weg zur Schule. Vor ein paar Jahren, als Andreas den Kindergarten besuchte, mußte sie noch früher raus und den Kinderwagen zwei Kilometer weit schieben, oft durch Regen, Eis und Schnee. Ihre Arbeit in der Sparkasse, eine Teilzeitbeschäftigung, dauert von sieben bis ein Uhr. Oft stehen nachmittags noch Schulungskurse auf dem Programm. In Pößneck gibt es nur ein Kino, und die Filme gefallen ihr nicht besonders. »Deswegen haben wir nach dem Abendessen doch meistens vor dem Fernseher gesessen.«
Den Urlaub verbringen die Strelzyks meistens in der Nähe, im Thüringer Wald oder an den Seen. »Oft haben wir gezeltet, das hat sehr viel Spaß gemacht.« An der Ostsee sind sie auch schon einmal gewesen, im Ausland noch nie. Der geplante Urlaub nach Jugoslawien mußte abgeblasen werden, sie bekamen keine Ausreisegenehmigung.
Am unangenehmsten ist für Doris Strelzyk – wie für die meisten Frauen in den Provinzstädten der DDR – das Einkaufen zum Wochenende. »Da stehen dann immer lange Schlangen vor den Geschäften. Oft wartet man stundenlang, besonders vor dem Fischladen oder beim Metzger, und wenn man dann endlich drankommt, ist die Ware gerade ausverkauft.« Doris Strelzyk sagt: »Alles, was ein bißchen über das Notwendigste hinausgeht, ist immer schwerer zu bekommen, es sei denn, man hat Westgeld – dann erhält man im Intershop am ›Hotel Posthirsch‹ alles, was das Herz begehrt. Aber wer hat schon West-Geld?«
Sie habe sich jedenfalls immer mehr für das Leben und die Verhältnisse in der Bundesrepublik interessiert. Doris Strelzyk unterhält sich intensiver als sonst mit Kollegen über den Westen. Sie fragt Besucher aus, die von drüben kommen. Sie sieht und hört beim Westfernsehen bewußter zu, »auch bei politischen und wirtschaftlichen Sendungen, und nicht nur bei Quiz-Sendungen und Spielfilmen«. Im Westfernsehen sieht sie auch Szenen von der deutsch-deutschen Grenze, vom hohen Stacheldrahtzaun, von den umgepflügten Minenfeldern und von den Selbstschuß-Anlagen. »Ich habe erschrocken daran gedacht, daß das ja nur dreißig Kilometer von Pößneck entfernt ist, und ich dachte wieder an das Gespräch mit Peter, daß er gesagt hat, er werde sich schon etwas einfallen lassen, um in den Westen zu kommen.«
Sie hatten jedoch längere Zeit nicht über das Thema gesprochen. Dennoch habe sie sich gelegentlich ein neues Leben im Westen vorgestellt. »Und«, so sagt Doris Strelzyk, »ich habe mich plötzlich gefragt, ob ich eigentlich Heimweh nach Pößneck haben würde, falls wir irgendwann einmal drüben leben sollten. Schließlich bin ich hier aufgewachsen, und Pößneck ist meine Heimat.«
Pößneck: Kreisstadt in Ost-Thüringen; dreihundert Meter über dem Meeresspiegel; 20000 Einwohner; Landwirtschaft; Klein- und Mittelindustrie; Sitz des Karl-Marx-Werkes, der größten Schulbuch-Druckerei der Deutschen Demokratischen Republik.
Das Städtchen liegt in einer Hügellandschaft zwischen den Bergen des Thüringer Waldes im Südwesten und der Leipziger Tiefebene im Nordosten. Auf den Höhenzügen wachsen dunkle Tannen. An den gemächlichen Hängen reift Korn. In den Tälern sprießt sattes Grün. Hier versorgen gesunde Kühe und fleißige Genossenschafts-Bauern große Teile der DDR mit Milchprodukten aller Art. »Pößneck – Stadt der bekannten ›Berggold‹-Schokolade« steht an einer Hauswand am Ortseingang.
Aus allen vier Himmelsrichtungen führen Straßen in die Stadt, meist mit Blaubasalt aus den Steinbrüchen der Umgebung gepflastert. Von weitem sieht man zuerst den Turm der Stadtkirche, daneben die Wetterfahne des gotischen Rathauses, das mit seinen verschnörkelten Giebeln und mit dem überdachten Laubengang in Reiseführern als Sehenswürdigkeit gepriesen wird.
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