Mit altem Marktplatz, mit Kirche und Rathaus, mit Bürgerhäusern im Ortskern und Neubaugebieten am Ortsrand wirkt Pößneck in Thüringen, als käme es aus demselben Systembaukasten wie etwa Buxtehude in Niedersachsen oder Naila in Oberfranken.
Hier wie dort gibt es einen Fluß, eine Durchgangsstraße, eine Bahnlinie. In Pößneck heißt der Fluß Orla und mündet zwei Kilometer weiter nördlich in die Saale. Die Durchgangsstraße führt nach Jena und weiter nach Weimar, Erfurt und Gotha oder über Jena nach Halle. Am alten Bahnhof von Pößneck halten die Nahverkehrszüge in Richtung Saalfeld und Gera.
Seit am Ufer der Orla im Jahre 1252 eine Siedlung mit Namen »Pesnitz« gegründet worden ist, hat hier Weltbewegendes nicht stattgefunden. Das größte Übel liegt schon eine Weile zurück: Im Dreißigjährigen Krieg hat die Pest in Pößneck tausend Tote gefordert. Sieht man davon ab, daß sich französische Besatzer von 1806 bis 1813 übel aufgeführt haben sollen, dann ist es der Stadt und ihren Bürgern im Laufe der letzten Jahrhunderte wohl ergangen. Straßennamen wie »Gerbergasse« oder »Tuchmacherstraße« erinnern daran, daß die Bewohner früher Textilien und Lederwaren hergestellt haben. Als fleißige Handwerker und Händler, so steht es in den Geschäftsbüchern, hätten die Pößnecker einträgliche Geschäfte mit den Kaufleuten von Nürnberg im Westen bis Leipzig im Osten getrieben.
Viel mehr ist Chronisten und Dichtern nicht zu der kleinen Stadt in Thüringen eingefallen. Selbst der Geheimrat Goethe, der um 1800 im benachbarten Weimar im Staatsdienst stand, hat von einem Ausflug ins nahe Pößneck nur zwei schwache Sätze hinterlassen. Der erste: »Es scheint ein nahrhaftes Städtchen zu sein.« Der zweite: »Es scheint einen guten Rat zu haben.«
Aus Goethes Zeiten steht noch der Brunnen auf dem Marktplatz mit dem Denkmal des wehrhaften Bürgers, der trägt Rüstung und Schild und eine Lanze, an der ein Drache aufgespießt ist. Im Laufe der Zeit hat der so aufgerüstete Pößnecker eins auf die Nase bekommen – da fehlt ein Stück Stein.
Der Zweite Weltkrieg hat in Pößneck kaum Schaden angerichtet, er fand weiter nördlich statt. Die alten Häuser sind erhalten, doch meist in miserablem Zustand. Der Putz bröckelt. Renovierung und frische Farbe täten dringend nötig. So wirken die verwitterten Fassaden wie triste Kulissen für einen Spielfilm über eine kleine Stadt in Deutschland, Anfang der 50er Jahre.
Tatsächlich, so ist der erste Eindruck des Besuchers aus dem Westen, in Pößneck scheint die Nachkriegszeit stehengeblieben zu sein, wie in den meisten Orten der DDR-Provinz. Noch heute herrscht hier so wenig Verkehr wie damals bei uns, dafür riecht es nach Zweitakt-Auspuff. Die Karosserien der Autos Marke Trabant, Wartburg oder Moskwitsch sind im Stil von vorgestern geschneidert, ebenso die Kleidung der Leute auf den Straßen. Frauen mit klobigem Schuhwerk und großen Plastik-Taschen stehen Schlange vor dem Fleischerladen. Die Schaufenster der Geschäfte sind spärlich und lustlos dekoriert. Im »Delikateß-Laden« werden unter dem Spruch »Heiter gestimmt in geselliger Runde« alkoholische Spezialitäten aus befreundeten Ländern offeriert: Rotwein aus Algerien (9,50 Mark) und Rum aus Kuba (35 Mark). Im »Haus der Dame« in der Breiten Straße präsentiert sich die Mode der Saison, als wären’s Kostüme zum Film »Die Ehe der Maria Braun« – zeitlos und züchtig.
Pößneck, die Heimat der Strelzyks und der Wetzels, ist kein Paradies für Autofreunde, Feinschmecker und modebewußte Damen. Das angestrebte Wirtschaftswunder steckt immer noch in den Kinderschuhen. Aber: Pößneck ist ein pieksauberes Städtchen. Kein Fetzen Papier verunziert das Pflaster, und auf dem mit Blumenkübeln dekorierten Marktplatzbrunnen wird einmal täglich der Taubendreck entfernt.
Mit größerem Aufwand als für Konsumgüter wird für sozialistische Gesinnung in Schaufenstern, an Hauswänden und an Fabriken geworben. »Mit Herz und Verstand«, so steht es im Fenster des Fischgeschäftes, »wetteifern wir zum Nutzen unserer Kunden und zu Ehren unserer Republik.« Daneben hängt eine Papierfahne, schwarz-rot-gold mit Ähre, Hammer und Zirkel. Daneben liegen ein paar fettige Schillerlocken, offenbar das derzeitig einzige Warenangebot. Nicht nur in diesem Fall scheint Bert Brecht in der DDR widerlegt zu sein: Kommt erst die Moral und dann das Fressen?
An der Außenwand der Kugellager-Fabrik VEB Rotasym hängen Fotos der »besten Aktivisten«, dabei sind diesmal der Automateneinrichter Manfred Schmetter und die Einrichterin in Bereich F3 Christel Kaschewski. Ein großes Spruchband verkündet: »Unser Ziel: Vorfristige Erfüllung des Planes in elf Monaten!« Auf dem Dach des SED-Kreisleitungsgebäudes ist die Parabol-Funkantenne ständig in Richtung Hauptstadt Berlin ausgerichtet.
Die »Volkswacht«, das Partei-Organ für den Bezirk Gera, meldet in der Ausgabe Pößneck, daß das Musterunternehmen der Gemeinde im sozialistischen Wettbewerb wieder einmal ganz vorn liegt, denn die Buchdrucker des Karl-Marx-Werkes haben schon in der ersten Jahreshälfte dreiundfünfzig Prozent des Jahressolls geschafft. »Mit Stolz und Freude«, so die »Volkswacht«, »nahmen die Werktätigen für ausgezeichnete Ergebnisse im sozialistischen Wettbewerb die Wanderfahne entgegen.«
Weitere Nachrichten aus Pößneck:
»In der ersten Etappe des Ernte-Wettbewerbes 1979 belegte der Komplex II schwere Technik der LPG Oppurg den ersten Platz vor dem Komplex I dieser LPG und dem Pflugkomplex der LPG Ernst Thälmann.«
»Durch den Abriß alter Gebäude im Rahmen des Machmit-Wettbewerbes konnten in diesem Jahr von Januar bis Juli über 108 000 Stück Mauerziegel und über 49 000 Stück Dachziegel gewonnen werden.«
»Mit dem Bau einer neuen Heizungsanlage werden sich in der Konsumgenossenschaft unseres Kreises die Arbeitsbedingungen weiter verbessern. Besonderen Anteil daran haben die Ingenieure Hans Mathes und Louis Burghard, die Kollegen Alfred Hesse sowie Maurermeister Tietze und Schlossermeister Meinhard.«
»Zum 35. Mal jährt sich jener Tag, da Ernst Thälmann durch Mörderhand fiel. Doch sein Geist lebt, seine Ideen und Ideale sind in unserer Republik Gegenwart ... Auf dem Ethel- und Julius-Rosenberg-Platz und am Ernst-Thälmann-Gedenkstein in der Neustädterstraße in Pößneck werden Kranzniederlegungen stattfinden. Straßen, Häuser und Plätze im Kreis, die seinen Namen tragen, werden um die Namensschilder Blumenschmuck tragen.«
Auf der Kommentarseite der »Volkswacht« leistet ein Hans Schmidt den Beitrag zur politischen Auseinandersetzung mit dem Klassenfeind, wieder einmal zum Dauerthema »Illusionäre deutsche Einheit«.
»Aber diese Einheit haben sie (die Politiker der Bundesrepublik, Anm. d. Verf.) selbst zerrissen. Sie begeben sich in die Lage von Leuten, die in einer Traumwelt leben, im Wolkenkuckucksheim. Haben sie etwa die gewaltigen politischen Umgestaltungen auf deutschem Boden gar nicht wahrgenommen? Haben sie auch die wichtigsten Veränderungen nicht wahrgenommen, die darin bestehen, daß es bereits seit 30 Jahren die Deutsche Demokratische Republik gibt? Hier gibt es für sie nichts mehr zu holen ... Die Bürger der DDR haben von ihrem Recht auf Selbstbestimmung Gebrauch gemacht und den Weg zum Sozialismus gewählt. Von einer Einheit mit der kapitalistischen BRD kann überhaupt keine Rede sein. Dabei bleibt es.«
Ein Tag wie jeder andere in der sozialistischen deutschen Kleinstadt Pößneck, 30 km von der Grenze zwischen Deutschland und Deutschland entfernt.
Auf einer Bank am Markt sitzt ein flottes junges Mädchen, etwa 18 Jahre alt. Es trägt knallenge verwaschene West-Jeans Marke Levis, dazu ein kariertes Hemd, an dem die oberen drei Knöpfe offen sind. Das Mädchen raucht Marlboro. Die Schachtel, die ihr vermutlich jemand aus dem Westen mitgebracht hat, liegt auf ihrem Schoß. In der Linken hält die Blondine lässig die glimmende »West-Fluppe«, mit der Rechten krault sie das Nakkenhaar ihres Freundes. Hinter dem Pärchen hängt ein Plakat: »Auf ewige Freundschaft mit den Völkern der Sowjetunion, dem Lande und der Partei Lenins.«
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