Gerhard Haase-Hindenberg
Der Mann, der die Mauer öffnete
Der Mann, der die Mauer öffnete
Warum Oberstleutnant Harald Jäger einen Befehl verweigerte und damit Weltgeschichte schrieb
Gerhard Haase-Hindenberg, Berlin
Edition 2014
1. EPUB/Kindle-Fassung, Oktober 2014
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Einige Rechte vorbehalten:
unter Verwendung von Fotos aus dem Privatbesitz von Harald Jäger, vom PROGRESS-Filmverleih, der Robert-Havemann-Gesellschaft, von SPIEGEL-TV und aus „Mein 9. November“ von Elsner/Hertle (Berlin 1999)
„Zum Glück sind die Zeiten vorüber, in denen Doktrinen attraktiv wirken konnten, die ihre Adepten mit Hilfe einer Handvoll vereinfachter Konzepte den Zugang zum Maschinenraum der Weltgeschichte aufzusperren versprachen – wenn nicht sogar zum Verwaltungsstockwerk des Turmes von Babel.“ Peter Sloterdijk „Im Weltinnenraum des Kapitals“ |
Mehrfach war mir der Name des einstigen Oberstleutnants Harald Jäger im Zusammenhang mit den Ereignissen des 9. November 1989 begegnet. In einer Fernsehdokumentation und im SPIEGEL und auch in der Buchdokumentation „Mein 9. November“ des Historikers Hans-Hermann Hertle und der Journalistin Kathrin Elsner. Aber überall, wo dieser ehemalige Staatssicherheits-Offizier befragt worden ist, war man lediglich am Verlauf jener Nacht interessiert und nicht an dessen Motiv für die folgenreiche Befehlsverweigerung. Dabei lehrt doch die Geschichte, dass deutsche Offiziere niemals aus einer spontanen Laune heraus Befehle verweigern. Vielmehr ging dem immer ein oft lange währender innerer Prozess voraus.
Dies war bei dem Generalstabsoffizier Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seinen militärischen Mitverschwörern am 20. Juli 1944 ebenso der Fall, wie bei dem preußischen General Johann Friedrich Adolf von der Marwitz. Der hatte sich fast 200 Jahre zuvor geweigert, den Befehl Friedrich II. auszuführen, das sächsische Schloss Hubertusburg zu plündern. Noch heute ist auf seinem Grabstein zu lesen: „Wählte Ungnade, wo Gehorsam nicht Ehre brachte.“
Hatte also auch jener Befehlsverweigerer des 9. November 1989 eine solch stille Vorgeschichte von Zweifeln und inneren Kämpfen? Immerhin hätte er sich in jener Nacht angesichts der heranströmenden Massen auch ganz anders entscheiden können. Nur wenige Kilometer südlich von seiner Grenzübergangsstelle an der Bornholmer Straße, am Übergang Invalidenstraße, hat der diensthabende Offizier zeitweilig eine gänzlich andere Problemlösung ins Auge gefasst. Nämlich, die Offiziersschüler der Grenztruppen als militärischen Trumpf einzusetzen. Sie hatten am 40. Jahrestag der DDR an der Parade teilgenommen und waren danach wegen der angespannten Lage nicht in ihre Kasernen im sächsischen Plauen zurückgeschickt worden. Diese Entscheidung hätte in der Folge nicht zwingend zu einem Blutvergießen führen müssen. Dennoch wird der damalige DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz fünf Jahre später davon sprechen, dass sein Land in jener Nacht „am Rande eines Bürgerkriegs“ gestanden habe. Angesichts dieser Situation hielt Harald Jäger ein Beharren auf den Befehl, die „Staatsgrenze zuverlässig zu schützen“ durch das Ministerium für Staatssicherheit, für weltfremd. Wie so viele Entscheidungen der politischen Führung in den vergangenen Monaten und Jahren. Das also war sie, die von mir vermutete mentale Vorgeschichte, die ich schon bei den ersten Begegnungen mit dem einstigen Oberstleutnant bestätigt fand. In unseren monatelangen Gesprächen entblätterte er mir gegenüber aber auch eine außergewöhnliche und zeitweilig höchst widerspruchsvolle Lebensgeschichte, die zudem erklärt, warum Harald Jäger das geworden ist, was er am 9. November war. Aus beidem zusammen ergibt sich konsequenterweise, weshalb er in jener Nacht den Befehl seiner Vorgesetzten, „die Grenze weiterhin zuverlässig zu schützen“, verweigerte und damit schließlich Weltgeschichte schrieb.
Gerhard Haase-Hindenberg
Der SPIEGEL ist einer der ersten Publikationen, die Harald Jäger als Maueröffner vorstellt. Wenngleich im Beitrag – im Gegensatz zum Titelblatt der Ausgabe – der Zeitpunkt der Maueröffnung falsch angegeben ist.
Sonnabend, 30. September 1989
Um 18.58 Uhr tritt der westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher auf den Balkon seiner Botschaft in Prag. Im Garten und auf den Fluren warten fast 4.000 DDR-Bürger, die in den letzten Wochen über den Zaun des Botschaftsgeländes gestiegen sind und hier ausgeharrt haben, um ihre Ausreise in die Bundesrepublik zu erzwingen. Als Genscher ihnen mitteilt, dass die DDR-Regierung diesem Wunsche endlich statt gegeben hat, bricht unbeschreiblicher Jubel aus.
Beleuchtete Fenster in fünfstöckigen Mietshäusern zeugen davon, dass auch dort drüben Leben stattfindet. Die Scheinwerfer eines Streifenwagens, der vor dem Polizeiposten jenseits der Grenzbrücke umherkurvt, streift deren im Dunkel liegendes gewaltiges Stahlgerüst. Oberstleutnant Harald Jäger blickt hinüber zu jener anderen Welt, die für ihn von jeher die des Gegners ist. Feindesland. In den Häusern dort aber lebt nicht der Gegner. Nicht die Bourgeoisie jedenfalls, sondern eher Klassenbrüder, in jenem Stadtbezirk auf der anderen Seite der Brücke, der Wedding heißt. Das weiß er. Früher war das einmal der „Rote Wedding“, wie er es aus dem alten Arbeiterlied kennt, welches man ihm in der Volksschule im sächsischen Bautzen beigebracht hatte. „Roter Wedding, grüßt euch Genossen / haltet die Fäuste bereit / haltet die roten Reihen geschlossen / dann ist der Tag nicht mehr weit …“ Unter ihm donnert die S-Bahn entlang. In den hell beleuchteten Waggons sind die gleichgültigen Gesichter der Passagiere zu erkennen, während sie auf der Grenzlinie zweier Weltsysteme entlang gleiten. Nur wenige Meter entfernt, doch auch sie in jener für ihn unerreichbaren feindlichen Welt.
Der Oberstleutnant war zum Postenhäuschen „Vorkontrolle: Einreise“ herauf gekommen, weil er sicher war, dass der junge Oberleutnant, der hier heute Nacht seinen Dienst versieht, mit ihm würde sprechen wollen. Immer wieder in den letzten Monaten hatte der junge Mann das Gespräch gesucht, mit dem erfahrenen Offizier, der drei Dienstränge über ihm steht. Er hatte Fragen – kritische Fragen, manchmal auch provokante Fragen, gelegentlich sogar Zweifel. Ob sich das sozialistische Wirtschaftssystem auf lange Sicht tatsächlich als leistungsstärker erweisen würde, als das kapitalistische. Schließlich sehe es doch im Moment überhaupt nicht danach aus. Oder warum die westlichen Besucher vielfach einen selbstbewussteren Eindruck machen würden, als die meisten Bürger der DDR. Im Straßenbild der Hauptstadt könne er sie leicht voneinander unterscheiden, an der Art sich umzublicken, an Körperhaltungen und Gesten.
Harald Jäger verstand den jungen Offizier gut. Es waren vielfach die gleichen Fragen und Beobachtungen, die auch ihn beschäftigten. Vielleicht spürte der junge Genosse die geistige Verwandtschaft, auch wenn es der Oberstleutnant sorgsam vermied, ihn in seinem Zweifel zu bestärken. Vielleicht genügte es dem Untergebenen, dass er in dem Vorgesetzten jemanden hatte, der ihn wegen seiner Fragen nicht gleich zum Außenseiter stempelt. Wie die meisten anderen Kollegen hier. Vielleicht gefiel ihm auch, dass der ihn nicht mit parteikonformen Phrasen abspeiste. Wenngleich ihn dessen Antworten kaum befriedigen konnten. Harald Jäger wusste, dass er einen argumentativen Seiltanz vollführte. Wenn er erklärte, dass die kapitalistische Wirtschaftsordnung immerhin einen Erfahrungsvorsprung von mehr als zweihundert Jahren habe. Als ob dies die Frage nach der perspektivischen Überlegenheit beantworten würde. Oder, dass man bei den westlichen Besuchern ja nur deren Fassade sehe, hinter die man nicht blicken könne. Obgleich er doch genau dies seit einem Vierteljahrhundert regelmäßig und nicht ohne Erfolg tut. Dort hinten in der niedrigen Baracke, mittels jener unverfänglich wirkenden Befragungstechnik, die im Fachjargon „Abschöpfen“ heißt.
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