»Was wohl aus der Besatzung geworden ist?«, sagte einer.
»Das werden wir noch herauskriegen. Das sind wir unseren Jungs und ihren Familien schuldig«, erwiderte einer der beiden Leute vom Air-Force-Geheimdienst. Seine Stimme klang pathetisch.
Die rothaarige Frau ging jetzt den Hang hinauf auf den jungen Reporter zu, der gerade seinen Standort wechselte. Es sah zunächst aus, als wolle sie ihn davonjagen. Doch dann plauderten die beiden offenbar freundlich miteinander. Sie tauschten Visitenkarten aus. Später erfuhr ich, was auf ihrer Karte stand: Valerie Stansted, Special Correspondent, American-German Press Service. Als Büroadresse war der Harvestehuder Weg in Hamburg angegeben, an dem auch das US-Generalkonsulat liegt.
»Ich wette, die arbeitet für die CIA«, sagte Wolfram.
Nach einer Stunde kletterten die Amerikaner wieder in ihren Helikopter. Die Rothaarige zuletzt. Als die Maschine mit ohrenbetäubendem Krach vom Boden abhob, wirbelten die Rotoren eine Sand- und Staubwolke auf. Wir hielten die Hände schützend vor die Augen.
In unserem Golfkarren folgten Wolfram Witt und ich den Reifenspuren des alten Landrovers zurück zum Golfclub. Als wir ankamen, ließ die tief stehende Sonne die Ziffern der Turmuhr auf dem Ziegeldach golden glänzen. Es war halb acht. Die Kellner konnten nach der Schlechtwetterperiode das Abendessen endlich einmal wieder auf der Terrasse servieren. Nach der Vorsuppe wurde ich ans Telefon gerufen. Zu meiner Überraschung meldete sich Irma.
»Ich muss mit meinem Vater noch einmal in die Staaten, aber in ein paar Tagen sind wir wieder zurück, spätestens zum Geburtstag von Lena. Wir warten gerade in Frankfurt auf unsere verspätete Maschine. Und du kommst nicht drauf, was ich gerade mache ...«
Eine Lautsprecheransage übertönte ihre Stimme, so dass ich die folgenden Worte nicht verstehen konnte.
»Was hast du gesagt?«, fragte ich. »Was machst du gerade?«
»Ich denke an dich, Bogey!«
Bevor sie auflegte, hörte ich noch eine Durchsage »Die Lufthansamaschine LH soundso nach Washington ist jetzt bereit zum Einsteigen.«
Auf der Clubterrasse lehnte ich mich glücklich in meinen Rattansessel zurück und blickte in den wolkenlosen Abendhimmel. Über dem Dach von Schloss Herrensee übte ein Vogelschwarm für den Flug in den Süden.
Hamburg/Herrensee, Freitag, 23. Juli 1993
Es hat mich einige Überwindung gekostet, doch am nächsten Vormittag rief ich wieder in Irmas Büro an.
»Jonas Anders«, sagte ich. »Sie werden sich erinnern – meine Freunde nennen mich Bogey.«
Der Sekretär hüstelte verkrampft. Aber diesmal war er schon wesentlich freundlicher. Meine Frage schien ihn allerdings zu verblüffen.
»Sie wollen wissen, wann die kleine Tochter von Frau von Mellin Geburtstag hat? Ich weiß nicht, ob ich ...?«
»Ich bin der Patenonkel«, behauptete ich. »Offen gesagt, ich habe das Datum versehentlich in meinem Organizer gelöscht: Ist es in vier oder in fünf Tagen? Wegen des Geschenkes, wissen Sie ...«
»Einen Moment«, sagte er, immer noch zögernd. »Ich sehe mal in unserem Terminkalender nach ...«
»... also, am kommenden Montag, den sechsundzwanzigsten Juli hat Frau von Mellin sich freigenommen.«
Jetzt erinnere er sich wieder, sagte Irmas Vorzimmer-Sprecher. Man habe bereits vor drei oder vier Wochen etwa ein gutes Dutzend bunter Einladungen an die Schulfreundinnen der kleinen Lena geschickt beziehungsweise an deren Eltern. Für den Kindergeburtstag auf Herrensee.
Ich bedankte mich sehr.
Zu Lenas Geburtstag würde Irma spätestens zurück sein. Und sie wollten also nicht in der Stadt, sondern draußen auf dem Lande feiern.
Vielleicht konnte ich ja an diesem Montag auch zufällig in Herrensee sein.
Am Sonnabend war die Business Class des Lufthansafluges vom Kennedy International Airport New York nach Frankfurt/Main gerade mal zur Hälfte ausgebucht. Auf dem leeren Platz neben Irma von Mellin saß ein Bär. Dick und rund, aus feinem Plüsch, gut eineinhalb Meter groß. 980 Dollar hatte sie für das Tier in einem exklusiven Luxus-Spielzeugladen an der Fifth Avenue bezahlt. Sie konnte es kaum erwarten zu sehen, wie Lena sich über dieses Geschenk freuen würde, denn vor ein paar Wochen hatten sie sich zusammen Walt Disneys Zeichentrickfilm »Das Dschungelbuch« angesehen, mit Balou, dem lustigen Tanzbär, in der Hauptrolle.
Stewardessen und Passagiere schmunzelten über das Paar in Reihe 7: über die junge Dame im Prada-Kostüm und den Bären im Plastiksack mit bunter Schleife. Auch der Mann hinter Irma von Mellin auf Platz 11 A hatte ihr beim Einsteigen freundlich zugenickt. Zwei Stunden nach dem Start, nach dem vorzüglichen Abendessen und nach einer halben Flasche Rotwein war er offenbar in Tiefschlaf gefallen. Er schnarchte immer wieder mal, meistens leise, gelegentlich aber auch markerschütternd laut. Irma drehte sich deshalb ein paar Mal um. Der Mann hatte seine sportlich-schlanke Figur über zwei der breiten Sitze ausgestreckt. Er trug Jeans, ein verwaschenes Hemd und spitze, verzierte Cowboy-Stiefel. Sein rotbraunes Haar war zu einem kurzen Pferdeschwanz gebunden. Sein Gesicht konnte sie nur zur Hälfte sehen. Er hatte einen dichten Schnurrbart auf der Oberlippe, ein kantiges Kinn und einen harten Zug um den Mund. Augen und Nase wurden von einer Schlafmaske verdeckt. Wie ein Cowboy sah er aus. Oder wie »Zorro, der Mann mit der Maske«, dachte sie.
Malte von Mellin saß in derselben Reihe wie seine Tochter, aber auf der anderen Seite des Ganges. Wenn sie miteinander reden wollten, mussten sie die Köpfe zur Seite drehen und lauter sprechen.
»Du hast dich bei den Gesprächen sehr gut geschlagen. Ohne dich hätte ich das nicht geschafft«, sagte er zu seiner Tochter. »Die Amerikaner waren beeindruckt von deinem Verhandlungsgeschick. Und dein Englisch ist wirklich brillant, darum beneide ich dich.«
Irma freute sich über das seltene Lob des Vaters. Als sie einige Geschäftspapiere aus ihrer Aktentasche zog und darüber reden wollte, bremste er sie. »Nicht jetzt und nicht hier«, sagte er.
Stattdessen plauderten sie über die Pläne für Lenas Geburtstag. Auf einer Wiese neben Schloss Herrensee sollte ein weißes Partyzelt aufgebaut werden. Bei schönem Wetter würde man ein großes Picknick auf der Wiese veranstalten. Für Kinder und Eltern getrennt. Sie habe ein Kasperletheater und einen Zauberkünstler engagiert und einen Fachmann für allerlei unterhaltsame Spiele, erzählte Irma. Malte von Mellin versprach zu kommen. Er liebte sein Enkelkind. Vielleicht besonders, weil der Vater unbekannt war. Selbst ihm gegenüber hatte Irma daraus ein Geheimnis gemacht. Aber er wusste, dass mehrere Männer in Frage kamen. Zwei oder drei. Keiner davon war ihm sympathisch.
Der Großvater notierte mit penibler, kleiner Schrift in seinen dicken Terminkalender.
»Montag, 26. Juli ab 14 Uhr, Herrensee, Geburtstag Lena!«
Er wiederholte Datum und Uhrzeit noch einmal laut.
Hinter ihnen hörte der scheinbar schlummernde Passagier aufmerksam zu. Eigentlich interessierte er sich nicht für Kindergeburtstage, aber diesmal merkte er sich Ort und Zeit sehr genau.
In der Ankunftshalle des Hamburger Flughafens sah Irma den Passagier aus der Business Class noch kurz wieder. Als der Chauffeur ihres Vaters ihre beiden schweren Rimowa-Koffer von der Gepäckkarre hob, stand er an einer Säule und hielt eine aufgeschlagene Zeitung in Brusthöhe, als ob er lese. Das amerikanische Blatt USA Today . Eine schlanke, etwas kleinere Frau trat auf ihn zu. In ihrem roten Haar steckte eine Sonnenbrille. Sie trug enge weiße Jeans und einen ebenfalls weißen Sommerblouson mit einer lachsfarbenen Rose im Knopfloch. Die beiden sahen sich ein paar Sekunden lang an. Offenbar unsicher. Dann umarmten sie sich zögernd. Ein Paar, das sich nach einem Streit oder nach einer Trennung wieder versöhnen wollte. So sah es aus.
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