Jetzt wandte sie sich um, starrte den still Dastehenden einen Augenblick an, als narrte sie ein Traumbild: „Jürgen“, schrie sie dann auf, flog auf den Jugenfreund zu, schlang ihre Arme um ihn, „Jürgen, du hier?“
Aber ihre Freude verflog schnell, als sie den schmerzverzerrten Zug um seinen Mund sah: „Jürgen, was ist mit dir geschehen, was ist vorgefallen?“ Sansft führte sie ihn zu einer Ecke, zwang ihn auf den bunten Bauernstuhl mit den lustigen handgewebten Stoffkissen nieder und streichelte seine Hände.
„Ich komme Abschied zu nehmen, Märta“, sagte er leise, „Abschied von Europa — von dir . . . “
Und dann erzählte er der fassungslosen Märta von dem, was sich auf Scholtenkamp ereignet.
Tief erschüttert hörte sie zu: „Mein armer, lieber Junge muss denn alles so ausgehen? Denke an deine Mutter, Jürgen, denk daran, dass sie, wenn sie sich auch nicht aufzulehen wagte gegen den Zorn deines Vaters, doch in dir ihr ein und alles sieht. Soll sie vor der Zeit dahinwelken wie Donna Carola? Und dein Vater? Er hat bestimmt seine Heftigkeit schon jetzt bereut, Jürgen, denn er ist nicht schlecht — nur masslos jähzornig. Kannst du nicht wieder zurück?“
„Nein, Märta, das kann ich nicht!“ In tiefem Weh, aber fest und bestimmt, kamen die Worte von Jürgens Lippen. „Diesmal hat mich ein gütiges Geschick noch davor bewahrt, dass ich die Hand gegen den eigenen Vater erhob. Beim zweiten Male“ — er schauerte zusammen — „ich musste gehen, Märta. Ich habe das unbändige Blut meines Vaters geerbt — besser, ich verlasse Scholtenkamp, ehe ich schwerere Schuld auf mich lade.“
„Und wohin willst du?“ fragte Märta leise.
„Zu Victor, Märta!“
„Aber niemand weiss, wo er ist.“
„Ich werde ihn finden“, sagte Jürgen fest. „Mir ist, als wäre in dem allem eine Bestimmung“.
„Du wirst ihn finden?“ Tränen strömten plötzlich aus Märtas wunderschönen grauen Augen. „Ach, Jürgen, nie, nie im Leben würde ich dir das vergessen . . .“
Eine solche Sehnsucht, so viel tiefes Weh lag in der Stimme des Mädchens, dass Jürgen wie von glühenden Pfeilen durchbohrt wurde. Sollte ihm dieser Tag, der ihm die Hiemat genommen, auch noch die einzige, süsse Hoffnung nehmen, die er im tiefsten Grunde seines Herzens gehegt?
„Märta“, sagte er leise, „leibst du Vic?“
Da senkte sich das schöne Mädchenhaupt mit dem rotgoldenen Haar tief, ganz tief. Tief senkte sich auch Jürgen Hauers Kopf.
Märta schien zu ahnen, was er empfand. Leicht, unendlich zart und liebevoll, glitt ihre Hand durch sein eng anliegendes, lichtes Haar.
„Jüregn“, sagte sie sanft, „meine Gedanken, meine Wünsche, meine Zuneigung begleiten dich wie die Wünsche und Zuneigung einer Schwester.“ Da beugte sich Jürgen über ihre Hände. Dann legte er sein Gesicht an ihre Brust, sie schlang die Arme um ihn — verharrte so — Mutter und Schwester zugleich.
Jürgen machte sich langsam frei, griff zart nach dem Gesicht des Mädchens, das ihn ruhig gewähren liess, sanft, ehrfürchtig beinahe küsste Jürgen die Freundin seiner Jugend zum Abschied.
„Märta, und wenn es mir zu einsam in der Fremde wird, wenn ich eine Schwester, eine Freundin brauche — wirst du für mich da sein? Ich darf dich nicht bitten, mein Weib zu werden, wenn ich dereinst sicheren Grund unter den Füssen habe, was ich zu Gott hoffe. Denn deine Liebe gehört ja nicht mir. Aber deine Freundschaft — und wenn ich ihrer bedarf?“
„Dann komme ich“, erwiderte Märta schlicht. Aber in ihren Augen stand es wie ein Gelöbnis.
Und noch lange nachdem Jürgen wieder fort war, dachte sie an dies Versprechen. Der Freund war gegangen, aber sie wusste, in seinem Herzen lebte sie weiter. Ob wohl auch der andere, der Verstummte, noch an sie denken mochte, er, dem sie die ganze ungestüme Liebe ihrer Kindheit und erwachenden Mädchenzeit geschenkt? Ob Victor ihrer noch gedenken mochte?
Das Herz war ihr schwer.
Das Fährschiff, das am kommenden Morgen Schweden verliess, sah einen jungen Menschen unter seinen Passagieren, in dessen braungebranntem Gesicht, in dessen hellen, blauen Augen ein schwerer Ernst stand.
Einsam oben an der Reling des Schiffes lehnte Jürgen Hauer, um dessen jungen Mund sich die ersten schweren Falten des Grams geprägt hatten. Er sah mit starren Augen hin über die blauen Fluten der Ostsee — über das Meer, das seine Jugend und das Land seiner Väter umschlossen. Als fern, nur wie ein Hauch, eine Fata Morgana — Rügen auftauchte, die Insel, auf der das Vaterhaus stand, verdunkelte sich trotz des strahlenden Sommermorgens sein Blick. Unter heissen Tränen nahm Jürgen Abscheid von seiner Heimat, von seiner Jugend. Was aus ihm werden würde, er wusste es nicht. Ob er je Heimat und Eltern wiedersehen würde, auch das lag dunkel in der Zukunft verhüllt. Aber das schwor er sich in dieser einsamen Stunde, er würde nur wiederkehren als ein ganzer Mann, der vor sich selbst Achtung haben konnte, und dem auch der Vater schliesslich würde Achtung schenken können. In Märtas Hände hatte er einen Brief an die Eltern gelegt, in dem er um Verzeihung gebeten für seine Heftigkeit und seine Flucht. Jetzt wie vorgestern, als er von Schlotenkamp fortging, war es ihm klar, dass es sein musste. Mit ruhigem Blute hätte er die Misswirtschaft daheim nicht länger ansehen können. Die rätselhafte Abhängigkeit des Vaters von diesem Inspektor Schlinker wäre ihm immer unerträglicher geworden — es hätte stets zu erneuten Auftritten geführt. All das schrieb er in ruhigen Worten den Eltern. Gegen den Vater war auf einmal, nun Jürgen vor so entscheidender Veränderung des Lebens stand, jeder Groll gewichen. Vielleicht würde er auch draussen, in dem ungewissen Dasein, mehr Verständnis für den alten Mann finden. Wohin er zunächst gehen wollte, wusste er noch nicht. Erst galt es zu versuchen, Victor aufzufinden. Aber wire würde das möglich sein? Eher konnte man schliesslich eine Stecknadel in einem Heuhaufen finden, als einen Menschen, von dem man nichts weiter wusste, als dass er seit seinen Knabentagen eine romantische Sehnsucht nach den Gefilden von Texas hatte. — Doch wie er mit seinen geringen Ersparnissen, dem Inhalt einer Sparbüchse, dei seit Kinderzeiten zu allen Geburtstagen und bei guten Zeugnissen gefüllt wurde, bis nach Texas kommen sollte, das schien ihm selbst das räteselhafteste von allem, genau so unwahrscheinlich wie das Wiederauffinden von Vic. Wäre Märtas Vater dagewesen, vielleicht hätte er ihm hinübergeholfen wie seinerzeit dem Freunde. Aber Märta hatte diese Möglichkeit entschieden abgelehnt. Sie besass einen klaren Verstand und sah die Dinge, wie sie wirklich waren.
„Mein prachtvoller alter Herr würde niemals seine Hand zu deiner Flucht bieten, Jürg“, belehrte sie ihn. „Vei Victor war das etwas ganz anderes. Den kannte der Vater vorher ebensowenig wie seine Eltern. Bei den freundschaftlichen Beziehungen indessen, die sich zwischen unseren Familien angebahnt haben, ist seine Beihilfe für dich einfach ausgeschlossen, mein Junge. Es ist beinah ein Glück, dass Vater unterwegs ist. Er würde sofort deinen Eltern Nachricht gegeben haben, und eigentlich hätte ich’s auch tun müssen!“ hatte sie grübelnd hinzugefügt, „aber ich tu’s nicht. Ich kenne dich zu gut. Wenn du glaubst, es daheim nicht mehr aushalten zu können, dann ist es höchste Zeit, dass du fortgehst. Wenn du dir erst einmal in einem fremden Lande hast den Wind um die Nase wehen lassen, dann wirst du alles anders ansehen — und auch zu deinem Vater eine richtige Einstellung gewinnen.“
So kam denn Jürgen in Hamburg an. Er wollte dort sehen, ob sich eine billige Passage nach Amerika gegen Arbeitsleistung finden lassen würde. Er stieg in einem kleinen, bescheidenen Hotel ab, das man ihm im Verkehrsbüro empfohlen hatte. Und alsbald machte er sich auf den Weg, um die ersehnte Heuer zu finden. Aber der erste Versuch, ein selbständiges Leben zu beginnen missglückte. Bei dem Darniederliegen der Handelschiffahrt gab es eine unendliche Anzahl arbeitsloser Matrosen, die die Heuerbüros belagerten. Da hatten die Reedereien Auswahl an geschulten und seetüchtigen Leuten. Man brauchte nicht auf Menschen wie Jürgen zurückzugreifen, die wohl Diplome aufzuweisen hatten, aber keine Ahnung von dem, was sie an Bord zu leisten hätten. Jürgen begriff zum ersten Male, dass die Bildung und die gesellschaftliche Stellung, die er bisher genossen, für sein neues Dasein eher ein Hindernis denn ein Vorteil waren. Das Herz ward ihm immer schwerer; aber sein Wille blieb zähe. Er musste fort, musste sich auf eigene Füsse stellen, musste dem Vater beweisen, dass er kein grüner Junge mehr wäre, der vor einem Inspektor Schlinker zurückzuweichen hatte. Er musste hinüber nach Amerika, mochte kommen, was da wolle. — Er hatte Märta gebeten, ihm postlagernd nach dem Hamburger Hauptbahnhof zu schreiben. Er hoffte, noch eine Nachricht von ihr zu erhalten, wie die Eltern auf Scholtenkamp seine Flucht aufgenommen. Am zweiten Tage seiner Anwesenheit in der Alsterstadt wurde ihm denn auch ein Schreiben Märtas ausgehändigt.
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