Ihre Sorgen wurden noch verstärkt, als nach und nach aus dem wohlerzogenen und ängstlich behüteten Knaben ein regelrechter Draufgänger wurde. Schuld daran war sein bester Freund, Victor von Fischer, kurzweg „Vic“ genannt, der Jürgen bewog, der „Räuberbande“ beizutreten, die sich — frei nach Schiller — in den weiten Wäldern um Putbus herum niedergelassen hatte. Freilich waren es friedliche Räuber, die „nur so taten“ und höchstens einmal einen Einbruch in die Vorratskammern der Mütter riskierten. Sie forderten wohl auch mit versteller Handschrift die Schwestern ihrer Mitglieder auf, „um eine bestimmte Stunde an einem bestimmten Ort fünf Tafeln Schokolade oder etliche Pfund Keks niederzulegen, widrigenfalls man ihr Tagebuch der hohen, elterlichen Obrigkeit in die Hände spielen und die Ungehorsame auf der ganzen Insel Rügen blamieren würde“. Oder das Dutzend Pennäler, aus dem „Die Bande der Zwölf“ bestand, legte sich auf die Lauer, und wenn die Gutsmägde sich mit den Knechten nach Feierabend in den stillen Buchenhainen ergingen, erschreckten sie die Ahnungslosen durch markerschütterndes Geheul, besprengten sie an Sonntagsnachmittagen — wenn es zum Tanz nach Putbus ging — wohl auch einmal aus einer Gummiblase mit Wasser oder trieben sonst allerhand lächerlichen Schabernack mit ihnen. Ab und zu setzte es wohl vom Oberförster, dessen Jüngster ebenfalls einer der „Zwölf“ war, eine gelinde Tracht Prügel, oder einer der anderen Väter wurde aufsässig und schwor, die ganze Räuberspielerei zu verbieten. Als es jedoch den Jungens eines Tages gelang, einen langgesuchten Wilderer und Hühnerdieb — einen äusserst rohen und gewalttätigen Menschen — zu ertappen und ihn dingfest zu machen, ehe er zu seiner Flinte greifen konnte, erhielt die Räuberbande nicht nur vom Oberpräsidenten in Stralsund eine öffentliche Belobigung, sondern man liess sie auch stillschweigend weiter gewähren.
Für Jürgen mit seiner leidenschaftlichen Lebenskraft und Phantasie barg die Zugehörigkeit zu der Räuberbande jedoch eine wirkliche Gefahr. Victor von Fischer nämlich entwickelte sich zu einer regelrechten Abenteurernatur. Von seiner mexikanischen Mutter, die einem uralten spanischen Adelsgeschlechte entstammte, floss temperamentvolles Blut in Victors Adern. Ueber den Nachahmungen alter peruanischer Inkabauten aus pommerschem Seesande und der Errichtug von Hütten, wie sie noch heute die Indios bewohnen, vergass er Latein und Mathematik, Grammatik und moderne Sprachen, kurz alle Schulpflichten. Dafür beherrschte er das Spanische wie seine Muttersprache, und in Geographie war er der beste Schüler der Anstalt. Er träumte von Wildnis, dem freien Leben der Cowboys auf der Pampas und der malerischen Prärie. Die pommersche Gutsheimat schien ihm wie ein Gefängnis, in dem die glühenden Träume seiner unruhigen Knabenseele keine Erfüllung fanden. Jedoch in Jürgens Gemüt erweckten sie begeisterte gleiche Träume. In dieser Zeit, vielleicht der gefährlichsten im Seelenleben heranwachsender Knaben, schlug die Saat, die sie durch ihre abenteuerliche Phantasie in sich selbst legten, kraus und wirr aus.
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Eines Tages herrschte auf Buchenhorst, dem Fischerschen Gut, grösste Bestürzung. Ein Gelddiebstahl war vorgekommen — Donna Carola, Vics Mutter, waren hundert Mark entwendet worden, die anonym aus Stralsund einer kranken Händlersfrau zugingen, deren Leben sie durch eine nun möglcihe Operation retteten. Zugleich war Victor verschwunden . . .
Er blieb unauffindbar. Reichswehr- und Polizeistreifen vereinten sich mit den höheren Gymnasialklassen und den Gutsarbeitern zu tagelanger Suche. Systematisch wurden die Wälder „durchkämmt“, wobei sich Kriminalbeamte mit Suchhunden gleichfalls emsig betätigten. Fingeradrucksvergleiche ergaben in dieser Zeit, dass für den Diebstahl auf Buchenhorst nur Victor in Frage kommen konnte. Als auch nicht das gernigste darauf hinwies, dass er im Walde oder beim täglichen Bade in der Ostsee verunglückt sei, sagte Jürgen eines Abends nachdenklich beim Essen: „Sicher lebt Victor jetzt irgendwo als einsamer Wolf . . .“
Sein Vater fuhr auf; und zum ersten Male zeigte sich ihm die Gefahr, die das Leben in dem engen Kreise, in dem sein Sohn aufwuchs, für den regen Knaben bedeutete.
„Als was lebt er, und wie kommst du darauf?“ Als der Knabe schwieg, brauste er auf. „Heraus mit der Sprache, wenn du etwas über das Verschwinden des diebischen Schlingels weisst.“
Flammende Röte überzog das Gesicht Jürgens. „Dass Victor gestohlen hat, muss ich leider zugeben, Vater“, sagte er mit einer Beherrschung, von der ein besserer Psychologe als der alte Hauer wohl bemerkt haben würde, wie erzwungen sie war. „Aber er hat durch seine Tat ein Menschenleben gerettet, denn seine Mutter weigerte sich, dem Manne der Fietje Predöl das notwendige Geld für seine kranke Frau und die Operation zu geben! Also war das Motiv, aus dem heraus Victor stahl, bestimmt kein unedels.“
„So fängt es an, und endet im Rinnstein oder auf der Landstrasse. Aber jetzt will ich augenblicklich wissen, was es mit dem „einsamen Wolf“ auf sich hat, Bengel! Siehst du denn nicht, in welcher Angst Victors Eltern und Geschwister leben, und fühlst du nicht die moralische Pflicht in dir, zu sagen, was du weisst?“
So sehr Jürgen innerlich für den Freund Partei nahm, — mit dem, was der Vater über die Furcht von Victors Angehörigen sagte, mochte er recht haben. Er musste dabei an seine eigene Mutter denken. Was wäre aus ihr geworden, wenn er so heimlich bei Nacht und Nebel Scholtenkamp verlassen hätte? Mit einem Gefühl, als bräche er dem verschwundenen Freunde die beschworene Treue, brachte er stockend hervor:
„Wenn in Texas jemand, der etwas ausgefressen hat, sonst aber ein braver Mensch ist, landflüchtig werden muss, die Gemeinschaft mit berufsmässigen Verbrechern aber ablehnt, so lebt er, fernab von den Verkehrsstrassen, als einsamer Wolf. Er meidet die Menschen und ihre Siedlungen, ernährt sich durch selbsterlegtes Wild, Waldfrüchte und Fischfang, bis er entweder begnadigt wird oder stirbt . . .“
„Dumme-Jungens-Ideen!“ brummte Malte Hauer empört. „Das geht so lange gut, mein Sohn, bis der Hunger kommt, gegen den bekanntlich trotz eures so modernen Jahrhunderts, wo die verfluchten Maschinen nach und nach den Menschen wohl völlig ersetzen werden, immer noch kein Kraut gewaschen ist. Hat sich was — einsamer Wolf! Na, ich wüsste, was ich täte, wenn in meinem Hause jemand wider mich wäre!“ schloss er und erhob sich, „es ist übrigens nur eine Frage von Tagen, bis sie den Ausreisser wieder haben. Der Berliner Detektiv hat seine Spur bis hinauf nach Malmö verfolgen können und telegraphiert, alles andere sei ein Kindespiel. Fischer will kurzen Prozess machen und den Lümmel in die stengste Erziehungsanstalt schicken, die es gibt. So ʼne Art von Fürsorgeinstitut für gebildete Kreise! Mir ganz aus der Seele gehandelt.“
Zitterend vor Furcht hatte Jürgen damals die nächsten Tage verstreichen sehen. So sehr er den Freund vermisste so sehr fürchtete er für Victor ein Misslingen der Flucht. Vic in einer strengen Erzeihungsanstalt, er der Freie, Unbeugsame — unmöglich! Aber zu seiner Freude wurde der „einsame Wolf“ nicht gefasst, und man hörte lange nichts von ihm. Bis zu jenem Tage, an dem ein Trupp schwedischer Schüler und Schülerinnen auf der Insel Rügen eintraf, die auf einer Deutschlandreise begriffen waren. Nach stets geübter, gastfreundlicher Weise nahm man die zwanzig Mädchen und Jünglinge für ein paar Erholungsstunden liebevoll auf Scholtenkamp auf. Unter ihnen war Märta Sverdrup gewesen, ein lang aufgeschossener, schöner Backfisch, der gut deutsch sprach und sich sofort an Jürgen heranpirschte, sobald sie seiner habhaft werden konnte.
„Du bist der Freund von Vic von Fischer, nicht wahr?“, hatte sie heimlich gefragt und den vollkommen erstarrten Jürgen schnell abseits gezogen, fort von den neugierigen Augen und Ohren der anderen. Dann hatte sie ihm voll Stolz ob des Geheimnisses, dessen Ueberbringerin sie war, alles erzählt:
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