Monika Kunze
Immer wieder diese Sehnsucht
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Inhaltsverzeichnis
Titel Monika Kunze Immer wieder diese Sehnsucht Dieses ebook wurde erstellt bei
Urteilsverkündung
Ankunft
Montagsrunde
Partyzeit
Flucht
Tagesordnung
Ehen
Einzelgespräch
Anteilnahme
Hans, der Dritte
Besuchsweise
Tanztherapie
Mauerbau
Bekanntschaft
Witwer
Traummänner
Geständnis
Heimkehr
Enttäuschung
Begegnung
Versuch
Verabredung
Eifersucht
Impressum neobooks
Jedes Mal, wenn sich Martina Knittel an die Tage vor ihrer Einlieferung erinnerte , kam ihr diese Szene in den Sinn: Zwei Frauen stehen im Hochhaus vor dem Fahrstuhl und unterhalten sich.
„Mit der stimmt etwas nicht! Das habe ich schon immer gewusst“, sagte die eine, sehr junge Stimme. Die andere, etwas ältere, wagt einen Einwand: „Stimmt schon irgendwie, aber …“
Die Worte der einen prasselten schnell und hart wie Schläge auf Martina ein, ließen sie auch nach Jahren noch zusammenzucken, sobald sie daran dachte. Das kleine "aber" bei den Worten der zweiten milderte die Härte der ersten ein wenig.
Sie kannte die junge Frau nur vom Sehen. Sie grüßten einander, wenn sie sich im Treppenhaus begegneten. Jung wirkte die Frau und freundlich, vielleicht auch dank ihrer hellen, fast kindlichen Stimme.
An jenem Tag aber empfand Martina die Dissonanz zwischen der Stimme und den Worten fast schmerzhaft.
Die andere, etwas dunklere und auch weichere, schien durchaus etwas Mitgefühl zu signalisieren. Vielleicht würde diese Ältere ja noch weiter sprechen, dachte Martina hoffnungsvoll. Für einen Moment blieb sie also stehen und lauschte. Und sie schämte sich sofort, als es ihr bewusst wurde. Der Lauscher an der Wand ... fiel ihr ein altes geflügeltes Wort ein und machte alles nur noch schlimmer.
Doch das kleine Fünkchen Hoffnung erlosch so schnell wie es aufgeglüht war: Nach dem Aber blieb alles still. Die beiden Frauen hatten wohl bemerkt, dass sich ihnen jemand näherte?
Als Martina um die Ecke bog, kreuzten sich ihre Blicke. Die Ältere sah zu Boden, die Augen der Jungen blitzten verächtlich auf, die Lippen spöttisch gekräuselt.
Martinas Vermutung wurde zur Gewissheit: Es war tatsächlich um sie gegangen. Sie blieb stehen, unfähig, auch nur noch einen Schritt weiter zu gehen. Sie kam sich vor wie eine Angeklagte, die in demütiger Haltung ihre Urteilsverkündung vom Hohen Gericht entgegen zu nehmen hatte.
Etwas Bitteres stieg ihr aus dem Magen, über die Speiseröhre in die Kehle hinauf, etwas, für das sie in ihrer Verwirrung nicht einmal gleich einen Namen fand. War das Angst? Fühlte die sich so an?
Doch sie wollte nicht, dass sie von anderen so gesehen wurde, so ängstlich und demütig. Entschlossen hob sie den Kopf und schaute zu den beiden hinüber.
Wäre ihr die junge Frau an einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit begegnet, hätte sie ihr vielleicht sogar sympathisch sein können, denn eigentlich – rein äußerlich betrachtet – hatte sie überhaupt nichts von einem gestrengen Richter an sich.
Ihr Gesicht wirkte eher niedlich, wenn auch etwas leer. Die ebenmäßigen Züge, mit gerader Nase und vollen, rosa geschminkten Lippen, krönte üppig aufgetürmtes weißblondes Engelshaar. Ihre schlanken Beine steckten in Leggings, darüber baumelte ein kurzer Trägerrock. Die Augen allerdings, stahlblau und von einem dicken schwarzen Lidstrich umrandet, gaben dem Gesicht eine Kälte, die einen unwillkürlich frösteln ließ.
Die andere Frau schien das nicht so zu empfinden, denn sie hing mit ihrem Blick an dem feucht schimmernden Mund des Engelsgesichts. Bisweilen nickte die andere, obwohl die Junge keinen Ton mehr von sich gab. Die Ältere wirkte unschlüssig, wohl schwankend zwischen Zustimmung und Bedenken. Unkontrolliert schob sie ihren hohen Leib nach vorn, wodurch sich ihr Hohlkreuz noch deutlicher als sonst abzeichnete.
Als sie endlich begriff, dass von der Zierlichen nichts mehr kommen würde, wechselte sie das Thema und fragte zögernd: „Sind die verhinderten Selbstmörder früher nicht generell in die Klapse gekommen?“
Es hatte sich also doch schon im Haus herumgesprochen, bald würde es die ganze Stadt wissen! Martina wollte umkehren, sich hinter der Treppe verstecken, doch dann nahm sie sich zusammen. Bauch rein, Brust raus, Kopf hoch erinnerte sie sich an die fast schon vergessenen Befehle ihrer Großmutter, sie atmete tief durch, ging geradewegs auf die beiden Frauen zu und trat dabei so fest auf, wie es ihre schlotternden Beine zuließen.
Die Ältere zuckte zusammen, der in die Hüfte gestemmte Wäschekorb rutschte dabei ein Stückchen tiefer. Der Jüngeren fiel eine Orange aus der überquellenden Einkaufstüte, die sie krampfhaft gegen ihren nicht vorhandenen Bauch presste.
Ihre Begegnung war anscheinend rein zufällig zustande gekommen. Und nur die unerhörte Tatsache, dass eine aus ihrem ehrenwerten Haus reif war für die Klapsmühle, hatte sie wohl überhaupt dazu gebracht, wieder einmal miteinander zu sprechen.
Das kam in den letzten Jahren nicht mehr so häufig vor bei den wenigen Leuten, die hier, in diesem elfgeschossigen Koloss am Rande der Stadt, wohnen geblieben waren. Mehr als die Hälfte der Wohnungen waren inzwischen verwaist und kosteten die Wohnungsgesellschaft nur Geld, anstatt welches einzubringen.
Früher, in den achtziger Jahren, waren die Leute noch glücklich gewesen über eine solche Neubauwohnung. Dafür gab es manchen Grund. So fand die Wärme aus der Ferne den Weg bis in ihre Stuben, ohne dass jemand Kohlen schleppen oder Asche hinaustragen musste. Brauchten die Leute warmes Wasser, drehten sie einfach den Hahn auf. Das war zu jener Zeit auch in der DDR durchaus noch nicht überall selbstverständlich. Was für viele jedoch den Gipfel des Glücks darstellte, war der zu jenen Wohnungen gehörende Balkon. Manche hatten sogar zwei. Und alle diese Annehmlichkeiten gab es zu heute unvorstellbar niedrigen Mieten. Wie davon die Wohnungen in Schuss gehalten werden sollten, war schließlich nicht die Sorge der Mieter.
Sicher, solche Bezeichnungen wie Karnickelställe oder Arbeiterintensivhaltung hatte es auch damals schon gegeben, aber da klangen sie noch eher liebevoll spöttelnd als verächtlich.
Nach der Wende, also in den Neunzigern, wurden diese Hoch-Häuser dann plötzlich von den meisten ihrer Bewohner viel kritischer betrachtet. Die Wände waren fast von einem Tag auf den anderen zu dünn, die Zimmer zu klein. Und überhaupt: Solche Betonplattenbauten waren nicht mehr zeitgemäß. Das Ausmaß von Lärm und Schmutz stieg fast im gleichen Verhältnis wie die Mieterzahlen sanken.
Aber nicht alle zogen fort aus dieser Kleinstadt. Manche von denen, die dablieben, wären vielleicht auch gern weggegangen, konnten sich aber möglicherweise kein besseres Domizil leisten. Wieder andere hatten jahrelang an ihren Wohnungen herum gewerkelt, sie immer wieder renoviert und modernisiert, vor der Wende mit viel Herzblut und viel Geduld beim Anstehen nach Baumaterial, danach mit viel Geld und der Qual der Wahl, welche Fliesen, Tapeten oder Fußbodenbeläge wohl die besten und preisgünstigsten seien. Nur das Anstehen war weggefallen. Versteht sich.
Doch auch schon damals, in den Achtzigern, als sie sich noch nach allem anstellen mussten, hatten sie, je nach dem eigenen handwerklichen Geschick oder freundschaftlichen Beziehungen zu entsprechenden Handwerkern und Verkäufern, ihren vier Wänden einen gewissen individuellen Charme verliehen. Auch Martina und Hans Knittel war es auf diese Weise gelungen, der einst verordneten Einheitlichkeit ein Schnippchen zu schlagen.
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