Damit ließ er sich gut gelaunt in seinen Chefsessel aus hellem Leder fallen und streckte die Beine aus. Sein Blick war erwartungsvoll auf sie gerichtet.
"Ich brauche keine Bedenkzeit, je schneller ich weg bin, um so besser."
Die Zweideutigkeit ihrer Worte war keineswegs beabsichtigt, aber gerade die war es wohl gewesen, die den Neurologen zum Telefon greifen ließ, um zu fragen, ob in einer bestimmten Klinik noch ein Bett frei sei.
Er klemmte sich den Hörer zwischen Ohr und Schulter, zog eine seiner buschigen Augenbrauen nach oben, nahm ein Blatt Papier aus dem Zettelkasten und machte sich eifrig Notizen. Alle Gelöstheit war aus seinem Gesicht verschwunden.
"Nein, die Bedenkzeit hat die Patientin ausgeschlagen."
Dann hatte er auch schon aufgelegt und wandte sich wieder an Martina, um ihr zu sagen, dass sie schon am 30. des Monats in G. aufgenommen werden könne.
Sie nickte mechanisch, zuckte die Schultern, und er begann ihr in aller Seelenruhe alle Modalitäten zu erläutern.
*
Vielleicht war es wirklich besser so? Stationär? Martina hatte die Frage noch auf dem Heimweg hin und her gewälzt. Doch obwohl sie sich ernsthaft bemühte, sie von allen Seiten zu beleuchten und zu betrachten, war sie zu keiner schlüssigen Antwort gekommen.
Was sollte das denn heißen: stationär? Was schon? So richtig klar wurde ihr das erst, als sie sich am Wasserturm auf eine Bank fallen ließ, den Wasserfontänen zusah und deren Plätschern lauschte. Das alles würde es für sie in der nächsten Zeit nicht mehr geben.
Wozu brauchte sie auch solche Verschnaufpausen am Springbrunnen oder das beruhigende Geplätscher der Wasserfontänen?
Wozu brauchte sie überhaupt noch etwas? Was sollte denn so ein Aufenthalt in einem Fachkrankenhaus für Neurologie und Psychiatrie bewirken?
Und überhaupt! Was für eine taktvoll schonende Umschreibung!
Die beiden Frauen aus dem Treppenhaus hätten beim Lesen des großflächigen Schildes am Eingang dieses Krankenhauses sicher die Augen verdreht, abfällig gegrinst, sich bezeichnend an die Stirn getippt und nicht die Mühe gemacht, irgendetwas taktvoll zu umschreiben. Für sie war Martina in die Klapse, ins Irrenhaus oder in eine Anstalt gekommen. Solche wie sie brauchten keine taktvoll schonenden Umschreibungen.
*
Der Fahrer, ein kleiner, drahtiger Kerl mit hellen Hosen und etwas zu groß geratenem dunklen T-Shirt, sprang federnd aus dem Auto und eilte mit wiegenden Hüften davon.
Martina wollte sich ein wenig die Beine vertreten und stieg ebenfalls aus. Dabei sah sie, wie er sich leutselig zur Pförtnerloge niederbeugte und einen Bogen Papier durch die Luke schob.
Sie hörte, wie er sich bei dem Herrn in Schlips und Kragen erkundigte, wohin er nun seinen Zugang bringen sollte.
Bei dem Zugang handelte es sich um sie, Martina Knittel, Journalistin, in dritter Ehe verheiratet, einen Sohn aus erster Ehe. Von den einen belächelt und verachtet, von den anderen bewundert, weil sie scheinbar, trotz aller Widrigkeiten, von denen sich in so einer kleinen Stadt natürlich manches herumgesprochen hatte, unangefochten ihren Weg zu gehen schien.
Ihren Weg? Wohin hatte der denn geführt?
Als Martina das Schild rechts neben dem Schlagbaum, wie unter Zwang, erneut las, fragte sie sich, was sie hier eigentlich verloren hatte. Wie konnte sie nur an diesen unwirtlichen, bei den meisten Menschen so verpönten, Ort geraten? Ausgerechnet sie, Martina Knittel, von der so viele glaubten, dass nichts, aber auch gar nichts imstande sei, sie aus der Bahn zu werfen?
Ein Seufzer und ein schmales Lächeln ließen sich nicht unterdrücken, als ihr unwillkürlich die Worte eines ihrer Kollegen einfielen: „Deine Ruhe und deinen Humor möchte ich haben!“
Sie hatte nur gelacht über die Bemerkung und sich gedacht, dass sie ja niemandem hülfe, die ganze Aufregung um nichts und wieder nichts. Lange Zeit hatte sie wirklich geglaubt, dass man mit diesen so oft gepriesenen Tugenden unbeschadet alle Schwierigkeiten meistern könne. Doch was sollten Ruhe und Humor nützen, wenn sie einfach unfähig war für eine dauerhafte Beziehung? Natürlich hatte sie ihre Selbstzweifel vor den Kolleginnen und Kollegen gut verbergen können. Doch all ihr Bemühen um Fröhlichkeit, das die anderen gar nicht als solches erkennen konnten, weil alles, was sie sagte und tat, auf andere tatsächlich leicht und unbeschwert wirkte, hatte offenbar nichts genützt. Wäre sie sonst hier?
„Fachkrankenhaus“, murmelte sie vor sich hin, „was für ein harmloses Wort ..."
Der Fahrer war gerade zurückgekommen und schaute sie misstrauisch an.
Sie hatte ihren letzten Gedanken wieder einmal laut ausgesprochen. Seine spärlichen grauen, schon ein wenig gelbstichigen, Haare flatterten leicht im Wind, er runzelte die Stirn.
„Haben Sie mit sich selbst geredet oder mit mir?“
Seine Frage klang ein bisschen von oben herab, schien auch ohne wirkliches Interesse an einer Antwort gestellt zu sein. Ohne weiter abzuwarten, fuhr er leutselig fort: „Ach, das wird schon, wir müssen ins Haus Nummer Acht!“ Dabei hatte er versucht, seinen Arm um ihre Schultern zu legen. Sie entwand sich ihm, indem sie schnell wieder ins Auto stieg.
Wir? Wir müssen ins Haus Nummer Acht?
Schon hatte er sich wieder in die Fahrerkabine geschwungen und den Motor angelassen.
Mit leisem Surren ging der Schlagbaum in die Höhe, und das Fahrzeug setzte sich gemächlich in Bewegung.
Martina hielt es selbst auch für überflüssig, dem Fahrer auf seine Frage zu antworten. Was hätte sie ihm denn sagen sollen? Sie hatte ja selbst viel zu spät bemerkt, dass sie laut gedacht hatte, und sie schämte sich dafür.
Doch den Mann hinter dem Steuer schien ihr Schweigen nicht weiter zu stören, denn er wirkte völlig entspannt, als er begann, mit spitzen Lippen ein Liedchen vor sich hin zu pfeifen.
Bei so einer , dachte Martina bei sich, werden ihm sicher schon ganz andere Sachen passiert sein. Da fielen doch eine geflissentlich überhörte Frage oder eine verweigerte Antwort überhaupt nicht ins Gewicht.
Martina wandte ihren Blick von seinem Nacken ab, in dessen feuchten Fältchen sich ein wenig Staub niedergesetzt hatte. Interessiert schaute sie aus dem Fenster.
Niemals hätte sie geglaubt, dass es für sie so mühselig sein könne, die neue Umgebung ganz genau in sich aufzunehmen. Sie war schon drauf und dran, in ihrer Reisetasche nach einem Stift und einem Block zu suchen. Gleich darauf ärgerte sie sich über ihren blinden Eifer, der ihr doch nichts weiter als Kopfschmerzen bescheren würde. Sie war schließlich nicht hier, um für eine Reportage zu recherchieren. Sich diese Tatsache vor Augen zu führen und in ihrer ganzen Tragweite zu begreifen, fiel ihr noch schwerer als sie ohnehin schon befürchtet hatte..
Der Krankenwagen fuhr langsam eine breite, asphaltierte Straße entlang. Zu beiden Seiten war sie von blühenden Linden gesäumt, deren angenehmer Duft schnell seinen Weg durch das geöffnete Fenster fand.
Die einstige Journalistin atmete ganz tief ein, erinnerte sich plötzlich, dass sie schon als Kind diesen Geruch gemocht hatte.
Damals in F., der Sängerstadt, wo sie ihre ersten drei Schuljahre verbracht hatte. Und wo sie … Nein, dachte Martina, gerade an ihn würde sie jetzt nicht denken. Er war ja inzwischen auch ein reifer Mann – und gerade von Männern hatte sie nun wirklich die Nase gestrichen voll.
Der Fahrer sah sie aus dem Rückspiegel an und sagte: „Die Klinik liegt schon herrlich, mitten in der Natur, und dann der Duft der Linden …“
Sie nickte automatisch, wollte ihn nicht vor den Kopf stoßen. Ganz bewusst versuchte sie noch einmal, richtig tief einzuatmen, aber es war vorbei. Das angenehme Gefühl war verschwunden, es war im Handumdrehen verdrängt worden von einer eisigen Kälte, die sich jetzt in ihrem Herzen einnistete.
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