„Bei Nacht und Nebel, in einem furchtbaren Regenwetter, hat mein Vater den Vic gefunden — unten, im Laderaum eines Schiffes. Es goss so furchtbar, dass man keinen Hund, geschweige einen Menschen hätte vor die Tür jagen mögen. Wir leben in Gotenburg, und mein Vater ist Kapitän. Er führt die „Ingeborg“, ein 20 000-Tonnen-Schiff, das mit Eisenerzen und Salpeter zwischen Schweden und Nordamerika geht. Ein schönes Schiff — ich bin auch einmal damit herübergefahren. . .“
„Weiter — weiter“, hatte Jürgen fiebernd gesagt, ihm lag damals nicht das geringste an der Schilderung des 20 000-Tonner-Dampfers, den Märtas Vater führte. Er wollte nur wissen, was mit seinem geliebten Freunde Victor geschehen war. Und Märta hatte bereitwillig weitererzählt. Der Vic wäre also aufgefunden worden, abgerissen und elend. Aber er hätte mit seinen blauen Augen und seiner ehrlichen Art einen so guten Eindruck auf den Vater gemacht, der stets bedauerte, keinen Sohn zu haben, dass er ihn einfach auf seinen kleinen Selbstfahrer geladen und geradwegs vom Hafen aus mit ins Haus gebracht hätte.
„Wäre der Vic nicht ein Deutscher gewesen“, hatte die junge Märta nachdenklich gesagt, „vielleicht hätte Vater doch nicht viel Federlesens mit ihm gemacht und hätte ihn der Polizei übergeben. Aber weil der Vic deutsch sprach — und noch dazu ein pommmersches Platt — die Mutter war nämlich auch eine Deutsche, und der Vater hatte sie unendlich lieb, brachte er’s nicht übers Herz, Vic der Behörde auszuliefern. Denn der hatte Stein und Bein geschworen, dass er sich, wenn er zurückgebracht würde, vor den ersten besten Eisenbahnzug werfen würde. Na, da hat der Vater ihn sich einmal vorgenommen und mit ihm geredet, das heisst, erst nachdem er ihn in die Badewanne gesteckt und mir ihn ein ordentliches Essen gegeben hatten“ — fuhr Märta lachend fort. „Also, er hat ihn zu sich gerufen und mit ihm gesprochen, aber weisst du, nicht so dumm, wie Väter es mit Söhnen wohl manchmal tun und wie es Victor von zu Hause wohl auch nicht anders gekannt hat. So von oben herab, als hätten die Väter alle Weisheit der Welt mit Lösseln gegessen, und wir Kinder wären dumme Babies, denen man noch —“
Sie hatte geschwiegen und ihren neuen Kameraden Jürgen eir wenig unsicher angesehen, denn es schickte sich doch wohl nicht, das zu sagen, was sie eben gesagt hatte. Aber Jürgen schien kein ehrpussliger Mensch zu sein, denn er sagte ganz heiss und begeistert: „Weisst du, Märta, dein Vater muss ein famoses altes Haus sein, so einen Vater hab’ ich mir schon immer gewünscht!“ Bitter dachte er daran, wie er selbst von Kindheit an bis jetzt immer gegängelt worden war. „Famoses altes Haus“, diese Bezeichnung hatte Märta gefallen. Der blonde, schlanke Jürgen Hauer war ein Junge, mit dem man vernünftig reden konnte. Und so hatte sie denn hastig weitererzählt. Der Vater wäre seinerzeit auch einmal als junger Mensch so von zu Hause losgezogen und hätte sich allein durchs Leben gekämpst. Und da ihm der Vic ganz aus dem Schrot und Korn gemacht zu sein schien, auch allein weiterzukommen, und da ihm nichts daran gelegen war, dass sich sein Schützling von irgendeinem Eisenbahnzuge überfahren liess, da hatte er ihm denn geholfen. Er heuerte den Vic als Schiffsjungen an und ermöglichte es ihm, ohne Einwanderungspapiere in New York an Land zu gehen, indem er ihn bei Verwandten unterbrachte.
Jürgen hatte zugehört, wie wenn man ihm als Kind Märchen vorgelesen — sein Mund stand vor atemlosen Staunen offen. Da war der Vic also wirklich und wahrhaftig in Amerika. Neid, Begeisterung, Sehnsucht überkam ihn — er sass hier in der Enge, ein Hauslehrer, den man auf die Geschichte von dem einsamen Wolf hin engagiert hatte, bewachte jeden seiner Schritte. Immer mehr entfernte er sich von dem Vater, immer mehr von der Mutter, die seit dem Unglück mit Vic nichts anderes für ihren eigenen Sohn übrig hatte, als Klagen und Ermahnungen. Inzwischen war Vic ein freier Mann, würde vielleicht alle die Träume der Knabenzeit in Wahrheit erleben, würde nach Wildwest gehen, wilde Mustangs fangen, eine Ranch mit der Waffe in der Hand gegen räuberische Diebe verteidigen, als Meldereiter in einer freiwilligen Miliz eine Farmeransiedlung vor dem Ueberfall der wilden Indianer schützen und schliesslich die Tochter des reichen Farmbesitzers als Braut heimführen. Nur eigentümlich, diese Braut sah in den Träumen des jungen Jürgen auf einmal aus wie die rotblonde zierliche Märta mit den silbergrauen, übergrossen Augensternen.
Aber Märta hatte seine begeisterte Phantasie schnell in die Wirklichkeit zurückgeführt.
„Was ist das schon, Amerika?“ hatte sie gesagt. „Das ist auch nichts anderes wie ein anderes Land. Nur tüchtig muss man sein — und ich glaube, der Vic ist es. Aber nur nichts ausplaudern, du!“
Das hatte er ihr mit tausend heiligen Eiden beschworen, und die Freundschaft zwischen den beiden jungen Menschen war besiegelt.
Als die schweidischen Austauschschüler nach zwei wundervollen Ruhetagen auf Scholtenkamp weiterreisten, da stand ein blonder Junge mit mühsam unterdrückten Tränen und einem vor Abscheidsweh zusammengeschlossenen Knabenmunde am Bollwerk und sah lange, lange dem weissen Tuche nach, das Märta winkend schwenkte. Erst als der letzte Schimmer ihres rotgoldenen Haares verschwunden war, ging Jürgen damals heim. Aber er vergass die neue Freundin nicht. Und manch Brief kam von ihr zu ihm. Die Eltern hatten gegen diesen Briefwechsel nichts einzuwenden. Glaubten sie doch, dass er ein gutes Gegengewicht wäre gegen die verrückten Jungensideen, die dieser Lump von Victor — anders nannten sie den jungen Fischer nicht — ihrem Sohne eingeimpft hatte. Eine Freundschaft mit einem wohlerzogenen Mädchen, das ja fast noch ein Kind war, musste ein guter, besänftigender Ausgleich sein. Sie ahnten nicht, dass Märta alles andere war als ein sanftes, dünnblütiges Frauenwesen, vielmehr ein herzhafter Mensch mit einer Lebenskraft, die die verrückten Ideen Jürgens ebenso gut verstand, wie sie einst Vic Fischer verstanden hatte. Und ebensowenig ahnten die alten Hauers, dass die lieblose, veständnislose Verurteilung von Vics Tat ihnen den Sohn immer mehr entfremdete. Es hätte so wenig bedurft, nur ein bisschen liebevolles Eingehen auf das vollkommen verwirrte Gemüt ihres Jungen. Er konnte ja nich verstehen, dass man Vic für eine Tat hart verdammte, die nur der Nächstenliebe entsprungen war. Er war noch zu jung, einzusehen, dass man zwar wohltätig sein konnte, aber doch nicht heimlich und durch Diebstahl, wie Vic. Die Eltern versäumten den Zeitpunkt, sich die Seele des Heranwachsenden zu gewinnen. Sie waren zufrieden, dass äusserlich alles gut ging. Der Junge lernte, erfüllte seine Pflichten und schien auch von den törichten Indianer- und Trappermärchen zu lassen. Dass in Wahrheit Jürgen seit jener Zeit mit seinem wahren Sein nur noch bei Vic war — und bei der neu gewonnenen Freundin Märta — das wussten sie nicht. Sie glaubten, Jürgen gebändigt und in ihrem Sinne gelenkt zu haben. Er aber lebte sein eigenes Leben, das zwischen den Gedanken an seinen fernen Freund und an die Freundin Märta geteilt war. — Vic liess nie ein direktes Lebenszeichen an Jürgen gelangen, aus Furcht, der Brief könnte in unrechte Hände geraten. Nur Märta schrieb an Jürgen mitunter in versteckten Andeutungen, die nur der Eingeweihte verstand, von Vic. Aber auch sie hörte nur wenig von ihm — und das schmerzte sie. Das zeichnerisch hochbegate Mädchen versuchte immer wieder aus der Erinnerung heraus, Vics Antlitz im Bilde festzuhalten, denn der tatentschlossene Junge, der sein Schicksal so mutig in seine jungen Hände genommen, hatte ihr einen tiefen Eindruck hinterlassen.
Ein Dampfer, der mit lautem Tuten dem Hafen drüben zulenkte, riss die beiden jungen Menschenkinder auf Vilm aus ihren Träumen.
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