„Aber“ — Frau Müller zog die sich Sträubende aus der Ecke — „es is ja der Herr Leutnant, Ihr Sohn! Majestät, ä was, sein Se doch nicht so doll!“
„Nein, nein!“ Die Kranke wimmerte wie ein Kind. „Den kenne ich nicht — der nimmt mir alles. Weg, weg! Er soll gehn!“
„Mutter, ich bin es? Liebe Mutter — ich, Ferdinand, dein Sohn!“
„Nein, weg — nein!“ Sie versteckte sich zitternd hinter die Wärterin.
Diese flüsterte:
„Gehn Se nur, Herr Leutnant! Ja, gehn Se, se is jetzt sehr aufgeregt, da is nix bei zu machen!“
Wie ein Trunkener schwankte der Sohn zum Zimmer hinaus, an der Tür wandte er sich noch einmal um.
Da war das vergitterte Fenster, hellbeleuchtet der zusammengekrümmte Körper der Mutter und die stämmige Gestalt der Wärterin mit dem groben fühllosen Gesicht. Seine Veilchen lagen am Boden verstreut, dazwischen die Blumen des freundlichen Kindes — sie hatten kein Glück gebracht.
Über den Rhein wehen laue Lüfte, der Ehrenbreitstein glänzt goldgelb im Sonnenschein. In den Wällen am Asterstein und drüben an der Karthause blühen die Veilchen, blau, massenhaft; der süsse Geruch steigt der Schildwache, die droben dröhnend auf und ab schreitet, in die Nase. Der Gewehrlauf blitzt in der hellen Luft. Wohin der Blick schweift, alles klar, heiter, freundlich. Der graue Klumpen der inneren Stadt mit den schwarzblauen Schiefertürmen, die Firmung, der Markt, die Löhrstrasse, der Entenpfuhl — alles sieht verklärt aus. Und draussen um die Villen im Glacis blühen schon Pfirsichbäume, und die Stachelbeerbüsche umspinnen sich mit erstem Grün. In den Rheinanlagen flöten die Amseln. Wer eine neue Toilette hat, führt sie spazieren. Frühlingszauber — Osterglocken.
Fräulein Aurora Planke sass in ihrer Jungfernwohnung, herb blickend, süss säuerlich wie ein Einmachetopf Essigpflaumen. Es war wunderhübsch still und ruhig um sie, die Stube so aufgeräumt und sauber, der Gedanke an Staub schon Blasphemie. Man sah, hier trippelten keine Kinderfüsse, auch kein Zigarrenrauch vergraute die weissen Mullgardinen. Alles tadellos.
Tadellos auch die herbe Jungfrau im schwarzen Wollkleid mit dem blendend weissen Umschlagkrägelchen und den weissen Manschetten. Wie Pythia auf dem Dreifuss sass sie auf dem gestickten Sessel vor ihrem Nähtisch; hinter sich hatte sie eine Efeuwand, aber der Efeu war künstlich — vor sich ein Vogelbauer, aber das gelbe Tierchen darin war ausgestopft. Bewahre, nur kein lebendiges, das warf ja Schmutz durch die Stäbe!
Auf Fräulein Auroras hoher Stirn lagerte eine Wolke des Unmuts. Heute war Agnes Röders Hochzeit — sie lauschte.
„Wenn er nicht bald kommt, muss ich weg; die Oberkonsistorialrätin hat mir ihren Kirchenstuhl offeriert. Schon spät!“ Sie lauschte wieder, unruhig, gespannt. — Da — draussen klingelte es endlich, ein ungeschickter Tritt stolperte über den Flur. Jetzt klopfte es.
„Herein!“ flötete Aurora, ihre Stimme hatte etwas Holdseliges.
Die Tür ging auf, über die Schwelle schob sich linkisch ein junger Mensch. Der Rock war fadenscheinig, um das blasse jugendliche Gesicht hing das semmelblonde Haar lang und straff, sanft in der Mitte gescheitelt. Er wagte nicht die Augen aufzuschlagen. Man witterte den Pfarramtskandidaten in spe auf zwanzig Schritt.
Fräulein Aurora streckte die Hand aus und lächelte.
„Nun, lieber Heinrich?!“
Er wagte es, nach einem tiefen Diener, stotternd die Hand zu fassen.
„Ich — ich wollte — mir erlauben — meiner hochverehrten Gönnerin — ein gesegnetes Osterfest zu wünschen!“
„Danke, danke! Nehmen Sie Platz! Wo waren Sie denn so lange?“ Es lag ein sanfter Vorwurf in den Worten. „Ich habe Sie längst erwartet. Nun ruft mich leider die Pflicht zur Kirche, eine frühere Schülerin von mir macht heute Hochzeit; viel zu jung, viel zu jung! Bei diesen Kinderehen, was kommt da heraus? Überhaupt, wie ich darüber denke!“ Sie zuckte die mageren Schultern und drehte die Augen gen Himmel. „Freilich, es gibt Ausnahmen,“ setzte sie einlenkend hinzu und strich dem jungen Menschen die Haare aus der Stirn, „aber selten, höchst selten! Lieber Heinrich, kommen Sie heut abend wieder und trinken Sie den Tee bei mir; es ruht sich gut nach stürmischem Tag im wohlumfriedeten Hafen.“ Sie seufzte.
Der junge Mensch sah sie verwundert mit den runden blassblauen Augen an, ein gutmütiges Lächeln zog ihm übers Gesicht. Was seine hochverehrte Gönnerin nur meinte? Der Tag war doch nicht stürmisch, im Gegenteil herrlich schön, und ein Spaziergang mit den andern Seminaristen, nebst anschliessendem Tänzchen in Capellen, wäre eigentlich der Teestunde bei Fräulein Aurora Planke vorzuziehen gewesen. Aber Fräulein Planke zahlte seine Studiengelder. Sie gewährte ihm Mittel für Wohnung und Kleidung, sie hielt ihre Hand schützend über den Elternlosen; war die Hand auch knochig, es war doch immerhin eine Hand. Er unterdrückte den Seufzer, der in ihm aufsteigen wollte.
„Lieber Heinrich,“ flötete Aurora und zog aus ihrer Tasche ein kleines Päckchen, „hier, nehmen Sie, das hat der Osterhase für Sie gebracht!“ Er fühlte zwischen seinen Fingern ein paar harte, in Papier gewickelte Taler. „Nun, was meinen Sie, wird es reichen, um sich dann und wann ein kleines Extravergnügen zu gestatten? Wohlverstanden, im höheren sittlichen Sinne!“
„O Sie sind sehr gütig!“
Der blasse Mensch rutschte vor Verlegenheit auf dem Stuhl hin und her; man sah’s ihm an, er war sich unklar, sollte er Auroras Hand an die Lippen drücken oder nicht. Die knochige Rechte näherte sich immer mehr seinem Munde, sie kam nah, ganz nah — jetzt — er wurde dunkelrot, mit einem plötzlichen Entschluss ergriff er sie und schüttelte sie herzhaft.
„Wenn das meine Mutter wüsste, wie gut Sie zu mir sind, Fräulein Planke! Ich danke, ich danke. Sie tun so viel an mir, mehr als die eigenen Verwandten, und sind doch nur meiner seligen Mutter Jugendfreundin. Sie sind selbst wie meine Mutter!“
Er schluckte ganz gerührt, und seine kurzsichtigen Augen zwinkerten.
Aurora zuckte zusammen, als habe sie jemand auf ein schmerzendes Hühnerauge getreten.
„Schwester, Schwester — sagen Sie Schwester, lieber Heinrich! Mein Gott, wenn ich so zurückdenke, ich war noch ein kleines Mädchen, als Ihre Mutter schon heiratete! Sie war mindestens zehn Jahre älter als ich — aber die Neigung, die gleicht den Unterschied der Jahre aus. Ich fühle mich Ihnen wie eine Schwester, mein lieber Heinrich!“
Nun drückte sich die knochige Rechte wirklich an seinen Mund. Fräulein Aurora seufzte. So blieben sie regungslos eine ganze Weile, während heller Frühlingsschein von draussen hereinflutete, die scharfen Züge der höheren Schulvorsteherin noch schärfer erscheinen liess und unbarmherzig die Krähenfüsse um Mund und Augenwinkel beleuchtete. Der liebe Heinrich wagte nicht sich zu rühren, da — ein Glockenton von fern! Fräulein Aurora erwachte wie aus einem Traum.
„Sie läuten schon, wie ärgerlich! Ich darf nicht fehlen, ich muss eilen. Bitte, lieber Heinrich, helfen Sie mir in die Mantille! Also auf Wiedersehen heute abend; nicht zu spät, lieber Heinrich! Ich erwarte Sie so früh wie möglich — auf Wiedersehn, lieber Heinrich!“ — — —
Agnes Röder war katholisch, Leutnant von Osten protestantisch. Aber was macht der Unterschied der Religion bei zwei liebenden Herzen?! Ohne Zögern hatte Agnes gleich eingewilligt, sich in der protestantischen Kirche trauen zu lassen; den Eltern war es schwerer geworden, aber sie gaben nach. Die Ostens waren altpreussischer Adel, und die Stellung des Bräutigams erheischte Rücksichten. Mit verweinten Augen und hochrotem Kopf war Mama Röder mehr als einmal aus der Messe nach Hause gekommen. Auch sah man den Kaplan Dengler von der Florinskirche öfter die Freitreppe des Röderschen Hauses hinaufschreiten; seine dünne schwarze Gestalt schob sich wie ein Schatten vor die leuchtende Freiherrnkrone des Ostenschen Wappens. Aber umsonst waren die Tränen der geängstigten Katholikin, die Ermahnungen des Geistlichen, errötend und lächelnd hatte Agnes erklärt: „Was mein geliebter Carlo will, ist auch mein Wunsch!“ Und auf die peinliche Frage: „Welcher Religion sollen deine Kinder sein?“ hatte sie, noch tiefer errötend, ebenso lächelnd erwidert: „Carlos natürlich!“
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