Clara Viebig
Das tägliche Brot
Roman
Saga
Hinter dem sandigen Hügel hebt sich eben die Sonne empor. Die Kiefern auf der Höhe werden rot umstrahlt, haarscharf zeichnet sich jede Nadel der struppigen Äste auf dem durchglühten Morgenhimmel ab. Ein scharfer Frühwind weht; das Hungermoos, das, grauweißen Bartzipfeln gleich, an den Stämmen hängt, flattert. Zuckende Lichter überhuschen die spärliche Grasnarbe, die kaum die knorrigen Wurzeln deckt, fingernde goldne Strahlen greifen hierhin und dorthin, strecken sich länger und länger, leuchten wärmer und wärmer.
Unten in der endlosen Weite der Felder noch bleichgrauer kalter Dämmerschein. Dampfende Nebel steigen aus den Senkungen und ziehen ihre weißen Gespinste über den Acker, bis sie fern an der blauen Wand des Waldes in Fetzen zerflattern.
Fahl schimmern in der Dorfgasse die gekalkten Giebel der Hütten, nur die hohen Mauern der Kirche zeigen schon warme Reflexe. Die Kastanienbäume am Portal schütteln sich, daß ein Regen von nachtfeuchten, gelben Blättern niedertrieft; ein herber bitterlicher Herbstduft steigt auf vom fallenden Laub.
Auf dem Pfuhl an der Straße rudert eine Schar Enten; lautlos, langsam, wie verschlafen, folgt eine der andren, einen helleren Streifen im dunklen Wasser nach sich ziehend. Jetzt richtet sich der Enterich kerzengerade auf, schlägt das Wasser mit den Flügeln, daß Tropfenperlen rings versprühn —, die ganze Schar bricht in lautes Geschnatter aus.
Auf Barthel Heinzes Dunghaufen erhebt der Hahn ein durchdringendes Kikeriki; feurig glühn die Firste der niedrigen Strohdächer, die Heinzen stößt die Läden auf — in der Stube wird es hell.
Der Tag ist da.
„Mach der nu uff“, sagte der Bauer zur ältesten Tochter und erhob sich schwerfällig hinterm Tisch, der die Reste des Frühstücks: Brotkrumen, Kartoffelschalen und den geleerten Suppennapf zeigte. „Laß der’sch gutt gehn, un schreib ooch! Halt der brav! Daß de tüchtig was sparst im Dienst! Schick’s Geld nur glei heeme, ich tu’s in Schwerin auf de Sparkass. Laß der nich beifallen, daß de’s verjuxst! Das sag ich der: kommste heeme un hast nischt vor der gebracht, kriegste de Hucke voll!“
„Ich wer’ schon, Vatter, ich wer’ schon“, versicherte die Tochter.
„Ei, die Mine is doch een guttes Kind“, sagte die Mutter weicher und strich mit der knochigen Hand dem Mädchen die Falten am kornblumenblauen Sonntagskleid herunter. „Was der Stoff sich scheene trägt! Verunjenier nicht, Mine! Ei, Heinze, laß nur, se wird sich schon schicken in Berlin. Arbeiten kan se — ju ju, das hammer se gelehrt. Da ist keine Herrschaft nich betrogen. Laß der nischt vormachen, Mine, laß der nich die Butter vom Brot nehmen, ooch von de Herrschaft nich! Kuck, daß de zu was kommst, schick brav heeme und bleib gesund!“
„Ich — wer’ — schon!“ Nun schluchzte das Mädchen.
Obgleich Wilhelmine Heinze schon zweiundzwanzig Jahre zählte und eine große breitschultrige Person war, die ihren Zentnersack Kartoffeln auf dem Rücken schleppte, so weinte sie doch wie ein Kind. Nun es ernstlich an den Abschied ging, wurde ihr der so schwer, wie sie es nie für möglich gehalten. Mit einem langen Blick sah sie sich im Zimmer um, wo die Kuckucksuhr an der Wand tickte und neben dem Ofen das hochgetürmte Bett der Eltern an der Wand stand.
Sie machte ein paar Schritte nach dem schmalen Türchen hin, das in die Kammer führte, darin sie so lange mit den drei jüngeren Schwestern gehaust. Da drinnen hing das Jahrmarktsspiegelchen, vor dem sie sich mit den Schwestern sonntags immer gepufft, denn jede wollte zuerst hineinschauen; da standen auf dem Fensterbrett die Geranien und Pantoffelblumen, die so überreich blühten.
Mit einem Schmerzenslaut sank Mine wieder auf den Sessel zurück und hielt sich die Hände vors Gesicht.
„Nu, nu“, begütigte die Mutter, „barm nich gar so sehre!“ Sie schnüffelte gerührt und wischte sich mit dem Handrücken unter der Nase her.
„Hast ja selber partu nach Berlin machen wollen — Mine, sei doch verständig! Denk an, was de verdienen kannst, bares Geld! Ihr seid der Kinder sechse, ju ju.“
„Was willste denn ooch derheeme?“ sprach der Vater. „Der Maxe und die Cilla sind lang groß genug, de Male wird Ostern eingesägent — wer schaffen unsere Arbeit alleene.“
Mit feuchten Blicken sah Mine die Geschwister der Reihe nach an. Der Vater hatte recht, groß genug! Da war der Max, ein kräftiger Bursche von nahezu achtzehn, gewachsen wie eine Tanne. Da war die Cilla, stämmig und breithüftig, wie eine Frau anzusehn trotz ihrer sechzehn Jahre. Da die Male, die die Zöpfe auch schon aufsteckte; da der Heinrich, der die Gänse, die Schweine und die Kuh hüten konnte, und da die Emma, die schon zur Schule ging. Mine nickte verständnisinnig — so war’s schon recht, eine mußte weg! Es waren der Mäuler gar zu viele für Barthel Heinzes Acker; das Haus war eng, man konnte doch nicht so aufeinander hocken. Wenn nicht der Peter und die Lisa, die nach ihr im Alter kamen, schon als Kinder miteinander im Entenpfuhl ertrunken wären, hätte sie längst fortgemußt. Und hatte sie denn auch nicht selbst den Wunsch, endlich einmal einen Groschen eigen zu haben? Die Mädchen, die nach der Stadt gezogen waren, erzählten Wunderdinge. Zuweilen kam eine zu Besuch nach Haus, dann lief das ganze Dorf zusammen, stellte sich vor der Tür auf oder lugte durch die kleine blasige Scheibe, hinter der die Heimgekehrte, in der Pelerine mit Perlenbesatz, in dem großen weißen Strohhut mit Seidenband und langer weißer Feder, stand und sich von den stolzen Eltern bewundern ließ. Selbst recht wohlhabende Bauerntöchter verschmähten es nicht, für ein oder zwei Jahre nach Berlin zu gehen, in „Pennssjohn“ (Pension), wie sie sagten.
Mit Blitzesschnelle zogen die Gestalten städtisch geputzter Mädchen an Mines innerem Auge vorüber — manch eine kam heim mit ’nem schönen Sparkassenbuch, heiratete gut oder machte auch in Berlin eine Partie, die sich sehen lassen konnte. Da lag ja ohnehin das Glück auf der Straße; leichte Arbeit, hoher Lohn. Nein, es war doch gut, daß sie selber ging und sich nicht von der Cilla zuvorkommen ließ, die immer drum redete. Gut, daß sie zu der gesagt: „Hör uff mit dem Gebelber, ich bin die ält’ste, ich han die Vorhand.“
Mit einem energischen Ruck sprang Mine auf und wischte sich, wie vorhin die Mutter getan, mit dem Handrücken die Nase; dann auch die Augen. Groß und stark stand sie vor den Eltern und reichte ihnen die Hand zum Abschied.
„Adje! Bleib gesund, Vatter! Adje Mutter! Bleib gesund!“
„Adje, Mine“, sprach der Vater, nahm die Pfeife aus dem Mund und betrachtete sie kritisch. „Scheene is se nichtmehr! Kannstmer zu Weihnachten ’ne neue schicken. Geh ooch zur Kirche, Mine!“
„Ju ju“, fiel die Mutter ein.
„Spar fleißig!“
„Un schick’s glei heeme!“
„Schreibt bald!“ Nun kamen der Tochter doch wieder die Tränen.
„Schreib du ooch bald!“
Mine reichte den Geschwistern der Reihe nach die Hand, erst den Großen, dann den Kleinen. Emme hing sich ihr an den Hals; sie hatte das Kind, das sie von seiner ersten Stunde an gewartet, immer sehr lieb gehabt, nun küßte sie es schallend auf Mund und Wangen. Immer tiefer bückte sie sich, um ihren Kummer zu verbergen.
„Bust du wehleidig“, lachte Cilla und gab ihr einen freundschaftlichen Klaps auf den Rücken. „Siehste, hätteste mir ziehen lassen!“
„Ich geh schon“, murmelte Mine und richtete sich auf. „Adje alle zusammen, bleibt gesund! Komm, Maxe, faß an.“
Verdrossen schlorrte der lange hübsche Bursche heran. Sie zogen den Reisekorb aus der Kammer; klein war der nur und nicht schwer, aber funkelnagelneu, für vier Mark fünfzig auf dem Schweriner Jahrmarkt erstanden. Mit Stolz ruhte Mines Blick auf ihm.
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