Clara Viebig - Das schlafende Heer

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Deutschland Ende des 19. Jahrhunderts. Preußen besitzt an seiner damaligen Ostgrenze große vor allem von Polen besiedelte Gebiete, die nun «germanisiert» werden sollen. Bauer Peter Bräuer wandert, von den staatlichen Versprechen angelockt, vom Rheinland in jene Grenzgau aus. Während seine Frau und seine Tochter sich leicht in der neuen Heimat einleben und Sohn Valentin danach trachtet, sich durch die Heirat mit einer schönen Polin in der neuen Heimat zu verwurzeln, bleiben Peter Bräuer Land und Leute fremd. Und die Hochzeit des Sohnes bietet neuen Zündstoff … Viebigs sozialkritischer und alles andere als deutschnationaler Roman, der den polnischen Landarbeitern und ihrem Konflikt mit dem Deutschen Reich viel Sympathie entgegenbringt, erntete von den deutschen Zeitgenossen heftige Kritik. Heute gilt es ein (fast) vergessenes Meisterwerk wiederzuentdecken.-

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Clara Viebig

Das schlafende Heer

Roman

Saga

Erstes Kapitel

Wie im Backofen die Brote, so bräunten sich jetzt die Landarbeiter in der glühenden, vor Hitze flimmernden Sommerluft. Auf den Hütten der Gutshörigen, die sich hinter den Steinwall duckten, lastete die Sonne. Heiss, unerträglich heiss war’s schon in der Frühe um vier; kein Tau war gefallen, der die Erde erquickt hätte. Dreist spiegelte sich das runde, tiefgelbe Sonnengesicht in den blanken Sensen und leckte mit seiner gierigen Zunge über das flache, schier endlos eintönige Land; über meilenweite Kornfelder, die schwer ihre reifenden Ähren neigten — über dunkelschollige Äcker, in deren fettem Boden, Pflanze an Pflanze gereiht, die Zuckerrübe wächst — über verstreute Herrenhöfe, die sich, durch Baumtrüppchen markiert, aus dem Meer der Felder herausheben — über wenige, dünnen Adern gleichende Strassen, die durchs ewig sich wiederholende staubige Grün der Rüben und staubige Gelb der Weizenfluren ziehen.

Von der Kreisstadt her, deren Strassen, kaum dass man sie verlassen hat, schon verschlungen sind von der Übermacht des Ackers, und deren Dom allein, als einziges Wahrzeichen, noch eine Weile über die Getreidewellen ragt, kam ein Gefährt. Eine kleine Britschka, mehr einem Karren als einem Wagen gleichend, überpackt mit Menschen. Und dahinter, in langsamerer, schwer-ratternder Fahrt, ein Leiterwagen, mit allem möglichen Haus- und Ackergerät belastet.

Der Mann auf dem Vordersitz der Britschka stiess jetzt den Kutscher, der, ihm vor den Füssen hockend, sehr geschickt auf der Deichselstange balancierte, fast hinab, so hastig drehte er sich um. Ihm war, als hätte hinten im Korbwagen jemand aufgeschluchzt. Was, fing die Frau schon jetzt mit Heulen an?!

„Kettchen!“ Er sagte es halb barsch, halb mitleidig, es war etwas Eigenes in dem Ton, der streng sein wollte und doch eine gewisse Bangigkeit in sich trug. Peter Bräuer fühlte selber ein seltsames Kribbeln in den Augen, die ihn schmerzten vom Sonnenbrand.

Zum Donnerwetter, dass auch hier gar kein Schatten war! Warum bepflanzten sie denn nicht die Chaussee mit Bäumen? Chaussee — hoppla, hat sich was mit Chaussee! Au, war das ein Stoss!

Verdriesslich schob Bräuer die Mütze, die ihm vom gewaltigen Ruck über einen Stein ganz auf den Hinterkopf gerutscht war, wieder nach vorn.

„Nennt ihr dat hierzuland en Chaussee? En ganz miserablen Landweg is dat ja“, brummte er und stiess den vor ihm Kauernden mit dem Knie in den Rücken.

Kein Muskel in dem stumpfen Gesicht des Kutschers regte sich. Er hob nur die Peitsche und liess sie mechanisch auf den grau bestaubten breiten Rücken des Braunen niederschwippen:

„Huj, het!“

„Peter“, bat jetzt die Frau in der Britschka, „sag ihm doch, er soll wat ruhiger fahren. Mer is dat gar nit so gewöhnt. Mir tun als so schon alle Knochen weh von dem lange Eisenbahnfahren. Sei so gut, sag et ihm doch!“

„Fahrt langsamer, fahrt langsamer!“

„Huj, huj, het!“ Der Kutscher hieb wie toll auf das sowieso schon unruhige, von Stechfliegen gepeinigte Pferd ein.

„Hört Ihr denn nit? Langsamer!“ schrie Peter Bräuer und fasste ihm über die Schulter in die Zügel. Hinter sich hörte er sein Weib und seine Kinder laut aufkreischen und sein Jüngstes, das der heftige Ruck beim jähen Anziehen des Pferdes aus dem Schlafe geschreckt, jämmerlich weinen. Der Zorn kam ihn an: der Esel mit seinem einfältigen Huihet!

Unsanft packte er den Kutscher an: „He, Polack, habt Ihr denn keine Ohren?“

Der zuckte nur stumm die Achseln und spuckte aus.

Weiter ging es wie bisher, über Steine und durch Löcher.

Die Sonne sengte. Noch war nicht das erste Dorf in Sicht, und zwei Dörfer musste man passieren, bis ganz hinten auf der Fläche, wie winziges Spielzeug unterm riesenweiten Horizont, die Häuschen der Ansiedlung auftauchen würden, mit ihren Zäunen von unbehauenen Fichtenstämmchen, mit ihren Äckerchen rundum, die noch nicht teilhatten an der Fülle des Sommers.

Peter Bräuer schob sich die Mütze auf dem Kopfe hin und her und rutschte unruhig auf seinem Sitz. Hm, was die Frau wohl dazu sagen würde? Ach je! Er war nicht ohne Besorgnis. Und merkwürdig, so weit und unbequem war ihm der Weg von der Bahnstation bis zur Ansiedlung noch nie erschienen! Und er hatte ihn doch schon ein paarmal gemacht in den acht Tagen, die er nun hier war. Das erstemal, als der Herr Gutsverwalter selber ihn von der Kreisstadt abgeholt und ihn hinausgefahren hatte, ihm die schriftlich erstandene Stelle zu weisen, hatte ihn Neugier beseelt, eine schier freudige Erregung; da war es ihm gewesen, als führe ihn der, der ihm so klar alle Vorteile des Ankaufs auseinandersetzte, in ein gelobtes Land. Es schien ihm sicher: mit Fleiss und Arbeit musste es hier gelingen, der Boden würde schon wiederzahlen, was man hineinsteckte an Kraft. Natürlich, das war ja ausser aller Frage!

Peter Bräuer reckte sich in seiner ganzen Stattlichkeit, und dann klopfte er, wie prüfend, seinen gewölbten Brustkasten: hei, er war doch noch ein Tüchtiger, trotz seiner Fünfzig, er nahm’s noch mit jedem von hierzuland, und war der auch zwanzig Jahre jünger, leicht auf!

Kritisch betrachtete er den halb eingeduselten Kutscher: hatte wohl Schnaps gesoffen, Wudka — wie sie den puren Kartoffelfusel nennen —, dass er am hellichten Tage schlief?! Ein verächtliches Lächeln zog des starken Mannes Mundwinkel herab, aber gleich wurde sein Gesicht wieder ernst: ’s war doch keine Kleinigkeit, mit fünfzig Jahren noch einmal von vorn anzufangen, noch dazu im fremden Land!

Was ihn vor acht Tagen, an der Seite seines beredten Führers, freundlich angesehn, dünkte ihn jetzt gewandelt. Blitzte ihn nicht der Himmel, der sich wolkenlos, stahlblau, ehern ob der hartgebrannten Erde spannte, so grimmig an, dass er die Blicke senken musste?

Bah — er rieb sich ungeduldig die Augen — nur nicht zag! Warum denn bange sein? Es hatte ihn ja auch bisher noch kein banger Gedanke beschlichen, auch nicht, als er zum zweitenmal allein dieses Weges gekommen. Da war er sogar die vier Stunden zu Fuss hinausgewandert und hatte sich, obwohl ermüdet, gleich ans Werk gemacht, hatte seine Stelle abgeschritten und sich den passendsten Platz zum Bau des Gehöfts ausgesucht. Ein Brunnen war schon vorhanden; aber dass er sich nicht auch das Haus von der Kommission hatte herstellen lassen, das reute ihn nicht. Nein, eines, akkurat so wie alle andern, so eine viereckige Dose, in die man Käfer sperrt — oder gar Stall und Scheune mit unter einem Dach —, so eines stand ihm denn doch nicht an! Und kein Baum, kein Strauch, kein Garten dabei, nicht einmal eine grüne Bleiche, auf der die Hausfrau das Leinen spreiten konnte, das passte ihm auch nicht! Nein, ein hübsches rheinisches Bauernhaus sollte es werden — ob weiss, ob wasserblau oder rosenrot getüncht, darüber war er sich noch nicht schlüssig —, ein Rebstock musste am Giebel sein, der sich bis zum Dachfensterchen reckte, dass man droben wie aus einem grünen Rahmen schauen konnte, hin zu den Sieben-Bergen jenseits des Stromes.

Ach, die Sieben-Berge — ein weicherer Ausdruck glitt über des Auswanderers hartes Gesicht —, die würde man nun freilich hier nicht zu sehen kriegen! Aber ein Gärtchen wenigstens würde da sein mit einer Laube, um die das Geissblatt am warmen Abend duftete; und Pflaumenbäume würden wachsen und Aprikosen am Spalier, dass die Frau was einzukochen hatte zum Schmierchen für die Kinder.

„Och, sieh ens, Peter! Kein einziger Apfelbaum steht hier im Feld“, sagte die Frau jetzt hinter ihm. Da schreckte er zusammen.

Frau Bräuer stellte sich aufrecht, mit beiden Händen stützte sie sich auf ihres Mannes Schultern, um so einen Halt zu haben im hin und her schleudernden Gefährt. Halb neugierige, halb ängstliche Blicke liess sie über die sonnenflimmernde Ebene schweifen. „Schöne Felder! Jesus, wat en Korn! So’n Felder gibt es bei uns zu Haus doch nit. Sag, wem gehören die?“

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