Clara Viebig
Elisabeth Reinharz‘ Ehe
Es lebe die Kunst!
Roman
Saga
Erstes Buch.
In der Alsenstrasse hielt eine Reihe von Droschken unter den braunen, knospenden Bäumen.
Vom Tiergarten herüber wehte eine angenehme laue Luft mit leisem Frühlingsmahnen.
Oben in der ersten Etage des eleganten Eckhauses waren die Fenster erleuchtet; dreizehn in der Front. In Pausen von halben Stunden reckte sich einer der verschlafenen Kutscher auf seinem Bock, dehnte die steifen Glieder, gähnte und deutete hinauf nach den hellen Fenstern — das konnte noch lange dauern, erst zwölf, die amüsierten sich noch.
In der grossen, komfortablen Wohnung des Bankiers Mannhardt wogte die Gesellschaft; fast hundert Personen, Elite des Geistes.
Das Souper war ausgezeichnet gewesen und soeben beendet. Man wandelte durch die Räume. Wie die Wohnung eingerichtet war, herrlich! Das heisst kein übertriebener Luxus, nirgendwo ein Hauch von Protzentum. Alles fein, diskret, sanfte Farben in harmonischer Abtönung; ein gediegener, vornehmer Geschmack. Möbel aus allen Zeiten, Bouleschränkchen, Rokokosofas, Renaissancestühle; aber jedes am richtigen Platz, von einer graziösen Laune zusammengestellt.
Da war ein lauschiges Eckchen hinter der mit künstlich verschossenem Damast bekleideten spanischen Wand; Blumen dufteten in der venezianischen Schale, und eine geschickte Kopie nach irgendeinem alten Meister schaute darauf nieder — der Lieblingsplatz der Hausfrau. Da sass sie gern, stützte das dunkellockige Köpfchen mit den klugen Augen in die kleine Hand und spann feine Fäden.
Überall Büsten und Statuetten. Verschiedene moderne Meister, die Hausfreunde waren, hatten den Hausherrn verewigt. Hier auf einem Gemälde: am Klavier, die Augen, weit aufgeschlagen, mit einem geistvollen Ausdruck in die Ferne gerichtet. Dort in Gips: ein Buch in der ausdrucksvoll modellierten Hand; diese Büste sollte in Marmor ausgeführt werden. Geschmackvoll reihten sich so moderne Werke denen früherer Jahrhunderte an.
Bankier Mannhardt war in allen Künsten zu Hause und ein Protektor aller Künstler. Seine Bibliothek enthielt sowohl gelehrte Folianten als jede Neuerscheinung auf dem Gebiet der schönen Literatur, Biographien, Memoiren, Notenstösse, Prachtwerke, Autogramme von Musikern, Denkern und Dichtern; die wertvollsten Stücke davon unter Glas in geschmackvollen Rahmen. Er selbst leistete Bedeutendes im Klavierspiel, aber er verschmähte es nicht, bei einer pianistischen Grösse der Residenz noch weiter zu studieren. Die Börse betrieb er nur so nebenbei; in offenherzigen Stunden gestand er es, er hätte eigentlich seinen Beruf verfehlt — Künstler, Künstler, das war’s! Er war sich nur noch nicht klar geworden, zu welcher Kunst ihn seine Begabung am gebieterischsten drängte.
Frau Leonore Mannhardt war die einzige Tochter eines reichen Handelshauses; sie hatte ihren Mann aus Liebe geheiratet. Als kleiner Kommis, aus irgendeinem Winkel Posens gebürtig, war er nach Berlin gekommen; sie hatte ihm die Stellung gemacht. Galante Zungen nannten sie eine zweite Rahel, eine Henriette Herz.
Heute exzellierte Frau Leonore am Klavier; ihr Mann hielt in Gesellschaft stets mit seinen persönlichen Leistungen zurück. Sie sang ein kleines Liedchen, das ihr Gatte, Gott weiss wo, ausgegraben hatte; sie sang es mit angenehmem Stimmchen und feiner Pointierung, begleitete sich selbst, und zwar stehend, die wenigen Akkorde lässig auf dem Klavier anschlagend, das Gesicht mit liebenswürdigem Ausdruck ihren Gästen zugekehrt.
Der Beifall war gross. Sie lächelte und deutete auf ihren Gatten, der mit gekreuzten Armen am anderen Ende des Flügels lehnte.
„O bitte, nicht ich — dort! O nein, meinem Mann gebührt das Verdienst!“
„Nein, nein, Lorle!“ lehnte er lebhaft ab. „Ich bitte dich, ich habe durchaus kein Verdienst hierbei!“ Er warf ihr eine Kusshand zu. „Dir allein gebührt es!“
„Ihnen beiden! Allen beiden!“ Man überschüttete das Ehepaar mit Komplimenten: einzig in seiner Art, dies geniale Zusammenwirken von Mann und Frau. „Mehr, bitte mehr!“
Man umringte den Flügel. Diener mit Kaffee, Bier und Likören konnten sich kaum durchdrängen.
„Bitte, bitte!“
„Es sind ja so viele bedeutende Künstler hier!“ Die Augen der Hausfrau streiften durchs Zimmer, sie neigte sich verbindlich. „So viele Grössen ... ich muss mich verstecken!“
„Lass dich erweichen, Lorle!“ rief Mannhardt. „Bitte, einen Augenblick!“ Er stürzte ins Nebenzimmer. Eine Mandoline am himmelblauen Bands schwingend, kehrte er zurück. „Hier, mein Kind, nun tu’s mir zuliebe!“ Er führte zärtlich ihre Hand an die Lippen: „Singe!“
Man war ganz Ohr.
Und nun klimprige Mandolinenklänge. Mit einer gewandten Bewegung hatte Frau Leonore das himmelblaue Band um den Nacken geworfen; den dunkellockigen Kopf nach links geneigt, den Oberkörper leicht zurückgebogen, lehnte sie in ihrem schlichten weissen Kleide auf einem Taburett.
„Mignon!“ sagte jemand.
Sie klimperte und sprach halb, sang halb dazu; getreu nach berühmtem Muster. Es war die betrübende Geschichte vom Mutterherzen, das der entmenschte Sohn herausreisst und der entmenschten Geliebten bringt. Im raschen Lauf kommt er zu Fall.
„T’es-tu fait mal, mon enfant?“ stöhnt noch das zuckende Mutterherz. Klänge von unbeschreiblicher, rührender Besorgnis, letztes, halb geächztes Stammeln einer übermenschlichen Liebe.
Frau Leonore trug geschmackvoll vor; es ging einem ans Herz. Die Damen wischten sich Tränen ab, die Männer schauten gedankenvoll vor sich nieder. Mannhardt geleitete die Gattin zärtlich besorgt zum Diwan, sie war selbst sehr ergriffen.
Die Diener präsentierten neu besetzte Tabletts. Man trank Champagner, man stiess an:
„Es lebe die Kunst! Hoch! Hoch unsere Wirte!“
Ruhig blickte überm Flügel Meister Sebastian Bach unter einer Allongeperücke, ihn ging das nicht an. Seine Büste stand der neuesten des Hausherrn gegenüber. Frau Leonore hatte darauf bestanden, diese müsste ins Musikzimmer; trotzdem der Hausherr lebhaft protestierte, war sie mit Hilfe einiger Freunde dort aufgestellt worden. Die weissen Gipsgesichter sahen sich voll an.
Es war ein animierter Abend; das Programm wechselte. Eine grosse Sängerin, der Stern des Opernhauses, sang; man öffnete die Fenster, der Musiksaal war zu eng für dieses mächtige Organ.
Unten wachten die Kutscher auf: „Alle Achtung, zetert die!“ Sie lauschten.
Dann deklamierte zur Abwechslung eine junge, talentvolle Schauspielerin. Fräulein Silvia Maschka gehörte der neuen Schule an; von Pathos keine Spur, sie war ganz Natur. Sie hatte Gedichte eines jungen Lyrikers zum Vortrag gewählt. Er war unbekannt, sie protegierte ihn; sie sprach rasch, sehr rasch, kein Mensch verstand ein Wort. Aber man applaudierte ihr, man sagte: „Bravo!“, sie sah so allerliebst aus mit ihrem lebhaften Mienenspiel und den erhöhten Farben.
Auf dem Lieblingsplatz der Hausfrau, hinter der spanischen Wand, hatten sich die Schriftsteller zusammengefunden; sie kamen heute nicht genügend zur Geltung.
Auf dem kleinen Eckdiwan hatten drei Damen Platz genommen. Ein Herr mit Nussknackerzähnen und Ansatz von Embonpoint machte ihnen mit seltener Unparteilichkeit den Hof. Es war Bolten, der Chefredakteur eines sehr beliebten Unterhaltungsblattes; und diese drei waren die Sterne seines Journals. Drei grosse Talente auf einem Sofa!
Links, Alinde Rosen, beherrschte den Salon; entzückende graziöse Plaudereien entstammten ihrer Feder, sie traf den Ton der guten Gesellschaft wie kein anderer Autor; ihre Helden waren unglaublich männlich, ihre Heldinnen unheimlich schön, Verlobung und Hochzeit die Hauptthemata. Jedes Werk ihrer Feder setzte die liebenswürdigen Leserinnen in Brand.
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