Clara Viebig
Das rote Meer
Roman
Saga
Den Sommermittag, den Akazien- und Lindenduft süss umschmeichelt, durchgellt ein Misston. Woher kommt er?
Die Leute, die über die Strasse des Vororts im Westen von Berlin gingen, merkten auf. Sie blieben stehen, drehten sich nach rechts, nach links, streckten den Kopf vor und horchten. Man war schon an vieles gewöhnt: an das auf dem Bahnstrang ewig-gleiche Dahinrasseln der Züge, die dem Krieg immer neuen Frass in den Rachen schütten — an das unheimliche Heulen der Feuerwehrsirene, die das Eintreffen der Verwundetentransporte ankündet — an die dumpfen Klänge einer Musik, die an immer neuen Gräbern zum Poltern der Schollen aufspielt — einen Laut wie diesen hatte man nicht vernommen. Was war das? Man erschrak. Man war schreckhaft geworden im dritten Kriegsjahr. Klang es nicht wie ein Hilferuf, wie eine Mark und Bein durchschrillende Klage? Ein Schrei ohne Worte; ein Jammer, aber nicht aus Menschenmund. So brüllt auch kein Tier auf unterm Beil des Schlächters. Es war etwas Übernatürliches, Furchtbares. Ein Schauer überlief die Hörer. Und alle hörten; nicht nur in den Strassen des Vororts, in den grünumbuschten Villen und Gärten, die Sommerluft nahm den Schrei auf ihre Flügel und trug ihn weit hinaus über Äcker und Felder, trug ihn durchs ganze Land.
Unwillkürlich hob Frau Hedwig Bertholdi, die am Tor ihres Villengartens stand, den Blick zum unbewölkten Himmel: ging ein Riss durch sein festes Blau, ballten sich finstere Wolken zusammen? Ihr war seltsam bang. Aber klar leuchtete oben das ruhige Blau, und die Erde prangte freundlich in Gartengrün. Rosen blühten, es war ein schöner Tag.
Sie wischte sich die Stirn; die Luft dünkte sie plötzlich schwer. Spähend sah sie nach dem kleinen weissen Wagen aus, in dem die Wärterin das Kindchen ihres Sohnes Rudolf ausgefahren hatte.
Ihre Nachbarin, die Witwe Krüger, kam vorbei. Hedwig hatte die Frau lange nicht gesehen; sie erschrak: war die alt geworden. Das Gesicht der Krüger, das früher breit gewesen war, schien ihr heute ganz schmal gehutzelt, von hundert Falten zusammen-geschnurrt. Die alte Frau führte einen kleinen Knaben an der Hand. Das war wohl das Kind ihres Sohnes, des Gustav Krüger, der schon seit Herbst vierzehn vermisst wurde? Ob die Mutter wohl immer noch auf Nachricht von ihm wartete?
Hedwig gab der Nachbarin die Hand. „Wie geht es Ihnen, Frau Krüger? Ist das der Kleine?“
Die Grossmutter strahlte auf: „Nu hab ich’n ganz. Die Hieselhahn“ — sie verbesserte sich rasch — „die Mutter von dem Kind is jetzt bei der Kriegswirtschaftsstelle in Berlin — annehmen tut se ja nischt von mir für sich selber —, da hat se zu wenig Zeit für das Jungchen. Zweimal die Woche kommt se abends raus, und denn den ganzen Sonntag. Aber er is gerne bei Grossmuttern, nich wahr?“ Sie bückte sich tief zu dem Kinde hinunter.
„Wie heisst du?“ Frau Bertholdi strich dem Kleinen über das glänzend blonde Haar.
Die dunkel bewimperten grossen grauen Augen sahen sie furchtlos an. „Jungchen.“
„Nur Jungchen?“ Hedwig musste lächeln.
„Er hat die Augen von meinem Gustav, die schönen grossen Augen. Da haben mich die Leute immer früher drauf angeredt, als ich ’n noch auf’m Arm trug. Und Gustav heisst er auch, wie sein Vater. Ich ruf ’n aber nur ‚Jungchen‘. Weil ich so viel mit meinem Gustav rede, weiss er ja sonst nich, wen ich meine: Vatern oder ihn.“
Die Krüger mochte ein gewisses Befremden in dem Gesicht der andern lesen, sie setzte rasch hinzu: „Verrückt bin ich nich, das brauchen Se nich zu denken, gnädige Frau, wenn’s die Leute vielleicht auch sagen. Ich hab noch alle meine Fünfe zusammen. Aber ich kann nich mehr leben, ohne mit Gustaven zu reden. Ich weiss ja nu, dass er nich mehr lebt. Die Hieselhahn“ — sie verbesserte wieder — „die Trude, die hat mir zuliebe keine Ruhe gegeben, nach Graudenz is se gefahren, wo sein Stammregiment stand.“
„Haben Sie denn da etwas Bestimmtes erfahren?“
Die Krüger nickte: „Se hat da einen getroffen, der ausgerückt war aus der russischen Gefangenschaft, ’nen Kamerad vom Gustav. Der is dabeigewesen, wie ’ne Granate meinem Gustav den Leib aufgerissen hat — seinen armen Leib! ‚Lebt wohl‘, hat er noch gerufen. Dann war’s aus. Bei Lodz ’rum. Ach, er war ja gar nich bei Dixmuiden, gar nich in Frankreich, wie ich immer gemeint hab; da hab ich ihn all die Zeit vergebens gesucht.“ Ein wehmütiges Lächeln ging über ihr verfurchtes Gesicht. „Wissen Se noch, Frau Bertholdi, wie ich mit dem Bild aus der Zeitung zu Ihnen gerannt kam, Sommer vor zwei Jahren? ‚Deutsche Gefangene auf Korsika‘ — da meint’ ich sicher, er wär’ drunter. Und er war in Russland, in dem grossen kalten Russland! Mich friert, wenn ich dran denke.“
Erregt zog sie das wollene Tuch, das sie um die hageren Schultern trug, dichter um sich. Dann aber fasste sie das Händchen des Kindes fester und sagte gelassen: „Nu friert er nich mehr. Se haben ihn da begraben; ’n Grab für sich allein, ’n Kreuz ha’m se draufgesetzt, aus Birkenstämmchen, wie se’s so machen in Russland. ‚Gustav Krüger‘ schön eingeschnitzt, und den Datum vom Tag. Der Kamerad hat’s ganz genau alles beschrieben. Die Hieselhahn hat ihm gegeben, was se bei sich hatte, der arme Mensch hatte ja keinen Pfennig. Se hat ihn gehörig ausgefragt. Also erst, wenn man rauskommt bei dem Dorf — se hat sich den Namen aufgeschrieben — denn kommt Heide, lauter ödes Land, ’n paar Kiefernstumpen drauf und kleene Birken und Gräben, lauter Gräben und tiefe Kulen von all dem Schiessen. Da geht man immer gradeaus. Denn kommt ’n grosser Sumpf, und denn biegt man rechts ab, wo Wald anfängt. Da steht ’n Heiligenbild in ’nem gemauerten Häuschen. An dem Kreuz hängt Christus; das Häuschen is halb zerschossen, eigentlich nur noch ’n paar Steine, aber das Kreuz steht hoch in den Himmel, und der Christus hängt dran noch ganz unversehrt. Und dahinter is so ’ne Art Buchte, hinter Buschwerk ’n bisschen geschützt, da haben se ’n begraben. Da werd ich ihn finden, wenn ich ihn suche. Wir fahren hin.“
„Hinfahren?!“
Die Krüger nickte.
Dachte die Frau im Ernst daran, nach solch unbestimmter Beschreibung das Grab zu finden? Hedwig schüttelte den Kopf: unmöglich. Ein so winziges Grab in einer so ungeheueren Weite; in einer Wildnis von Baumstümpfen und Moor. Und sicher war jetzt dort schon alles anders, der Krieg wandelt das Antlitz der Erde ja rascher um in Augenblicken, wie Jahre das Gesicht des Menschen. „Sie können nicht hin, das geht nicht!“
„O doch!“ Die Frau blieb hartnäckig.
„Sie denken sich das leichter.“
„Ich denke mir gar nischt.“ Die Krüger reckte sich, es kam etwas von der früheren Strammheit in ihre Gestalt. „Wir fahren. Wir haben schon ’ne Eingabe gemacht. Die Frau General von Voigt nimmt sich unser an; der ihr Mann steht im Osten, nach dem fragen wir. Dann gibt der uns einen mit, und der führt uns.“
Hedwig sagte kein Wort mehr; das klang alles so bestimmt, so selbstverständlich.
Die Krüger sprach weiter, es schien ihr ein Bedürfnis, davon zu reden. „Im Herbst kriegt die Hieselhahn vierzehn Tage Urlaub, denn fahren wir.“ Sie blickte fast spöttisch in das besorgte Gesicht der anderen: „Wir sind ja nich so verwöhnt. Was man muss, das kann man auch; besonders jetzt. Wenn Sie wüssten, wie ich mich drauf freue, denn würden Sie vielleicht denken: die Krüger is doch verrückt.“ Sie lächelte und trat Frau Bertholdi leise, fast heimlich sprechend, näher: „Wenn ich früher was hatte, was mich quälte — solange man lebt, hat man ja nu mal Unruh und Verdruss — denn ging ich abends immer an Gustaven sein Bett. Denn guckte ich mir den Jungen an, wie er so ruhig schlief, und denn wurd ich auch ruhig. Nu geh ich wieder an sein Bett und streich mit der Hand drüber hin, und denn bin ich auch ruhig, ganz ruhig.“
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