„Un da soll einer noch Lust haben, sich dotschiessen zu lassen?“ Eine Blasse mit hungrigen Augen krächzte und hustete. „Ich habe meinen Mann aber ooch jeschrieben: wenn se dir nich jeben, denn nimm dir; un wenn de det nich kannst, denn schmeiss hin. Die Franzosen sind ooch Menschen, un die ha’m noch wat, lauf bei die rüber. Bei die Engländer un Amerikaner jiebt’s erst recht wat Fettes.“
„Aber denn sind se doch gefangen,“ sagte zittrig ein altes Mütterchen. Ihr zahnloser Mund war blass, sie war schwach von dem langen Stehen auf geschwollenen Füssen, eingekeilt in der sich drängenden Menge der Käuferinnen. „Mein Sohn is in Gefangenschaft, das is mir fast schlimmer als tot.“
„Quatsch!“ Eine grosse vierschrötige Person stiess sie in die Seite. „Ha’m Se sich bloss nich so. Uns machen Se doch nischt vor. Wenn man satt hat, so satt, wie wir seit Jahr und Dag nich mehr werden, denn kann et einem janz ejal sein, ob französch oder englisch oder amerikansch. Meinetwejen russisch, oder jelb wie de Affen, die Japanesen.“
„Nein, nein,“ die Alte war hartnäckig, „ich will deutsch bleiben und deutsch sterben.“
Die Vierschrötige lachte auf. „Deutsch sterben?!“ Sie mass die jämmerlich Zusammengeschrumpfte mit spöttischem und zugleich mitleidigem Blick. „Na, det kann Ihnen leicht passieren.“
„Will ich auch,“ murmelte die Greisin. „Was soll ich noch hier? Mein Junge gefangen, wer weiss, ob er je wiederkommt — meine Tochter hat die Schwindsucht, ‚unterernährt,‘ sagt der Doktor. ‚Butter, Eier, Milch —‘ lieber Gott, wo soll man die herkriegen?!“
Ein Murmeln ging um. „Ja, ’n Attest kann man schon kriegen vom Doktor.“
„Kost’ aber jedesmal vier Mark.“
„Un ob man die Milch denn immer kriegt, oder ’n Iries oder die Haferflocken oder ’t weisse Brot, det is noch sehr die Frage.“
„Alles fürs Heer!“ Ein heimliches, aber nicht zu unterdrückendes Gelächter erhob sich.
Oh, es war nicht erfreulich, diese Unterhaltungen mit anzuhören! Frau von Voigts Stirn umdüsterte sich; manches Mal hatte sie sehr darunter gelitten. Aber nein, sich nicht niederziehen lassen von den Erbärmlichkeiten des Alltags! Was bedeutet ein einzelnes Menschendasein gegenüber dem Leben des Vaterlandes? Sie war sich darüber klar, es war schwer, sich nicht umwerfen zu lassen von einer plötzlichen Schwäche. Man durfte eben nicht vergessen, dass nichts erreicht wird ohne Opfer. Jetzt war für alle die Zeit der Opfer. Und es wurden Opfer gebracht, so ungeheure, dass es einem schwindelte: Männer, Söhne, das ganze Familienglück, die eigene Gesundheit, Wohlleben, Behagen, alle Bequemlichkeit.
Die Frau holte Luft, als sei ihr der Atem knapp geworden. Gott sei Dank, dass noch Stunden des Stolzes, der Genugtuung kamen, eine Stunde wie die heutige, in der sie ging, um sich mit der Mutter des jungen Helden zu freuen!
Die hohe Gestalt der Generalin schritt aufrecht dahin. Die Leute grüssten sie; es kannte sie hier fast ein jeder. Es gab welche, die sich über sie ärgerten: ‚militärfromm, königstreu‘ — aber die Achtung versagte ihr keiner. Sie wussten: die hatte trotz allem Verständnis fürs Volk und ein Herz für die Armen. Als die Dombrowski, die hübsche, lebenslustige Frau, damals bei dem Unglück auf dem Bahngeleise, unter die Räder des Fernzuges kam, der in die Arbeiterinnenkolonne hineinfuhr, nahm sich die Generalin der zurückgebliebenen Kinder an. Der Vater war im Feld und kümmerte sich nicht um die, liess gar nichts mehr von sich hören, man wusste nicht, war er tot oder gefangen. Die Kinder sollten in das Waisenhaus, aber das kleine Mädchen, das noch um die Mutter jammerte, klammerte sich an den Bruder und schrie sich heiser. Da hatte sich denn die Generalin erbarmt und die Kinder zu einer Frau Müller in Pflege getan und bezahlte für sie. Dombrowski konnte sich bedanken, wenn er noch mal wiederkommen sollte, der Junge war längst nicht mehr so ein Strolch, das Mädchen wurde immer niedlicher.
Es wäre Hermine von Voigts grösster Wunsch gewesen, Verwundete zu pflegen; aber sie fühlte, dazu war sie nicht jung genug mehr; sie hatte nicht die Kräfte, Tag für Tag in aller Frühe ins Lazarett zu gehen und dort auf den Füssen zu bleiben bis zum Abend. Es war ein schmerzliches Bescheiden. Ach, wer das noch leisten konnte, der war am glücklichsten daran. Blut und Wunden wird man gewöhnt, und haben sich die Pforten des Lazaretts einmal geschlossen, so ist man in einer Welt für sich. Mit dem Stundenschlag geht die Pflichterfüllung, eigene Gedanken sind ausgeschaltet, man hat zu ihnen nicht Zeit. In die hohen Krankensäle mit den dichtgereihten Betten tritt das nicht ein, was das Leben vor den Pforten so schwer macht — alle Angst vor der Zukunft bleibt draussen. Hier ängstigt man sich nur um die nächste Stunde: glückt die Operation? Wie wird der Kranke erwachen? Man fragt nicht: wie wird Deutschlands Schicksal sein? Wird das deutsche Volk auch durchhalten? Hier fragt man nur: wird dieses junge Blut genesen?
Hermine von Voigt konnte es nicht verstehen, dass Lili und Annemarie sich solche Freuden entgehen liessen; die waren doch jung und kräftig genug. Sie hatte es von der Tochter anders erwartet, die aber lächelte träumerisch:
„Ich kann nicht, Mutter. Wenn ich unglücklich wäre, dann ja, dann würde ich gern pflegen. Aber jetzt — ich bin zu glücklich!“ Sie sah rührend schön aus mit dem verklärten Lächeln. „Vielleicht, dass ich auch all meine Kräfte sparen muss, dass ich die alle noch brauche.“
Unter den grossen Linden im Vordergarten stolperte der kleine Rudi Bertholdi an der Hand der Wärterin herum; im Zimmer ging es besser, da lief er schon flink von Stuhl zu Stuhl, hier bohrten sich seine kleinen Fussspitzen ungeschickt in den hohen Kies. Hinter dem hübschen Kind mit den braunen Ringellöckchen ging lachend die hübsche Mutter. Sie hatte sich in den Arm von Lili Rossi gehängt.
Es war wie lauter Heiterkeit: das freundliche Haus, der gepflegte Garten, das Kind im weissen Röckchen, die beiden jungen Frauen in lichten Kleidern. Leute, die am Gatter vorübergingen, staunten: die dadrin merkten noch nichts vom Krieg. Das Kind hatte ja Bäckchen wie ein Apfel; wenn man dagegen die anderen Kinder ansah: alle blass, welk. Wovon sollten die auch dicke Backen haben? Nur die ganz kleinen bekamen noch ihre Milch, für die anderen gab es keine. Und wie fein die Damen angezogen waren!
Annemarie lachte übermütig. Sie war heute fast ausgelassen vergnügt: das war grossartig, Schwager Heinz den Pour le mérite bekommen! Schade, dass Rudolf nicht auch Flieger war, es war da viel leichter, ausgezeichnet zu werden. „Er muss mal ’ne ordentliche Heldentat vollbringen, ich warte immer aufs Kreuz Erster; sonst schäme ich mich ja!“ Ihr klangvolles rheinisches Lachen schallte bis in die Veranda, wo Hedwig und Frau von Voigt am Teetisch sassen.
Die beiden hatten lange und vertrauensvoll miteinander gesprochen; es war das erste Mal, dass sie die Zukunft ihrer Kinder berührten. Hedwig schloss die Augen wie geblendet — Heinz, ihr Sohn, ein so berühmter Flieger? „Es ist mir wie ein Traum. Oft frage ich mich: ist das der Junge, der in der Schule nicht lernen wollte? Er hat mich oft Tränen gekostet. Rudolf nie. Aber er — o weh, die Zensuren! Ich habe manches Mal darüber geweint.“
„Nun haben Sie doppelte Freude an ihm,“ sagte die Generalin herzlich.
Hedwig nickte: „Grosse Freude.“ Sie war den ganzen Tag schon blass vor innerer Erregung. Es war etwas Übermächtiges auf sie eingestürmt, als sie gestern im Abendbericht von der Auszeichnung ihres Sohnes las. „Du bist ordentlich grösser geworden,“ neckte sie ihr Mann. Ach nein, nicht den Kopf zu hoch tragen! Fast ängstlich wehrte Hedwig alle Glückwünsche ab. ‚Bist du aber mal komisch,‘ sagte Annemarie; sie ärgerte sich über die Schwiegermutter: warum sich denn nicht mal so recht freuen?
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