Clara Viebig
Menschen und Strassen
Grossstadtnovellen
Saga
Die kleinen braunen Schuhe
An der Ecke der Strasse war ein Schuhwarenladen: Herrenstiefel, Damenstiefel, grosse und kleine, standen im Fenster, überall war der Preis verzeichnet.
Billig! Billig! Gelegenheitskauf!
In der Mitte, so dass abends das Licht der elektrischen Kugellampe sich voll darüber ergoss, und tags die Sonnenstrahlen ihren Goldflimmer darumwoben, standen ein Paar Kinderschuhe, winzige Schuhchen von braunem Leder mit weichen Söhlchen und weissen Steppverzierungen. Sie waren ausgestopft, kleine himmelblaue Strümpfe ragten aus ihnen hervor; man konnte glauben, trippelnde Kinderbeinchen steckten darin.
„Fünf Mark, schade, das ist so teuer“, sagte die junge, blasse Frau und zupfte ihren Mann am Ärmel. „Du, sieh ’mal! Wie entzückend! Ach, wenn unser Kind die hätte!“
„Eh’ es geboren ist?! Ne du, das muss man nicht, so lang vorher was kaufen! Darin bin ich abergläubisch!“
Sie lächelte.
„Ich hab’ schon oft hier gestanden, ich kann gar nicht vorbeigehen. Alle Tage fürcht’ ich, sie sind weg. Das wäre schrecklich!“
Ein Ausdruck von Angst kam in ihr schmales Gesicht. „Wenn er die verkaufte, eh’ unser Kind geboren ist!“
Sie wagte nicht zu sagen: Kauf du sie doch! Sie war sehr still, sehr schüchtern. Ihre Augen ruhten mit einem merkwürdig verträumten Blick auf den kleinen, braunen Schuhen; seufzend und zögernd nur wandte sie sich ab.
Kanzleisekretär Mauke war mit seiner jungen Frau auf dem Spaziergang ins Freie; das heisst, sie wanderten ihre entlegene Vorstadtstrasse zu Ende. Die Häuser standen hier nur noch vereinzelt, von kleinen Leuten bis unters Dach bewohnt. Ungehindert vom Wagenverkehr trieben Rudel von lärmenden Kindern ihr Wesen. Da waren noch leere Bauplätze mit Schutthaufen und Sandgruben, und weiterhin primitiv umzäunte Ackerstückchen mit Bretterlauben. Hochgeschossene Sonnenblumen nickten, und verblühte rote Bohnen machten schwache Kletterversuche. Weithin breitete sich die sandige Fläche, das Vorland der grossen Stadt, die Herbstsonne stand darüber wie ein roter Ball; langsam rutschte der Ball tiefer und tiefer am Horizont.
Sie schlenderten hinein in die Röte, das Gesicht der jungen Frau war wie verklärt; sie hatte Tränen in den Augen, heimlich flüsterte sie: „Die Schuh, die schönen Schuhchen!“
Nachts träumte sie von ihnen. Oben, vier Treppen hoch, in der kleinen Wohnung tanzten sie über die Dielen; immer vorm Bett hin und her. Ihr braunes Leder glänzte und knarrte leise, die weissen Steppnähte blinkten freundlich, — sie lachten einen ordentlich an — die weichen Söhlchen glitten dahin wie schmeichelnde Katzenpfötchen. Und statt der himmelblauen Strümpfe steckten rosige Beinchen in den Schuhen — hei! wie flink die waren!
„Mariechen, lieg ruhig!“ Der Kanzleisekretär beugte sich über seine Frau. „Ist dir was?“
Sie war noch ganz verschlafen; verwirrt hob sie den blonden Kopf vom Kissen. „Ich habe von den — ach, du weisst schon! — so wundervoll geträumt!“
„Na, so was!“ Er war einigermassen beunruhigt. Als er am anderen Morgen in seinem abgeschabten Überzieher zum Bureau rannte, stand er an der Ecke still.
Im vollsten Sonnenglanz präsentierten sich die braunen Schuhe hinter der grossen Scheibe; sie waren wie in Gold getaucht, — Goldkäferchen, — er sah sie hüpfen. So reizend! Sie taten’s ihm an. Bah, abergläubisch musste man nicht sein! Wenn er Mariechen die Dinger da plötzlich auf die Kommode stellte, wie würde sie sich freuen! Er hörte schon ihren entzückten Schrei.
Fünf Mark! — Sinnend stand er.
Ein Windstoss kam plötzlich um die Ecke und traf ihn empfindlich kühl; die Sonne verkroch sich, schwarz gähnte das Schaufenster, und die Goldkäferchen waren tot, ganz ohne Glanz.
Es lief ihm eisig über den Rücken; erschauernd knöpfte er den abgeschabten Paletot fest zu und schlug den Kragen im Genick hoch. Nein, er konnte sie nicht kaufen! Da waren so viel notwendige Ausgaben, und wie viele würden noch kommen! Vor allen Dingen musste Feuerung ins Haus — brrr, es war kalt!
Er wandte sich ab, und der Wind schnob hinter ihm drein.
Fröstelnd sass er im Bureau und schrieb seine Akten ab. Durch den Fensterspalt verirrten sich nur spärliche Sonnenstrahlen; unten war der Hof verbaut und feucht, und hoch oben der Himmel so abgezirkelt, wie ihn der Schornsteinfeger durch den Schlot sieht.
Nach Stunden erst fing Mauke an, wieder warm zu werden. Sein Kollege hatte einen roten Nelkenstengel zwischen den Zähnen und sprach viel von Radeln und fabelhafter Hitze; das wirkte.
Sonnenschein lag auf dem Pflaster, als der Sekretär nach Hause ging; die Bäumchen an der Strassenseite hatten noch Grün. Er ging mit offenem Paletot, und da er eilig lief, schwitzte er.
Nun kam die Ecke. Eine verdammt zugige Ecke! Er musste doch Mariechen warnen, denn wenn man da lange stehen blieb, konnte man sich wirklich was holen. Ein eiskalter Luftzug strömte vom Fenster her; wenn die Ladentür aufging, roch es nach Moder. Der Mann lüftete schlecht, pfui!
Mauke guckte durch die Türscheiben; er hatte noch nie hier gekauft. Der Laden war dunkel wie ein Grab, und der Besitzer sah so verhungert aus, nur Haut und Knochen; er stand hinterm Ladentisch und spähte mit tiefliegenden Augen nach Kunden aus. Als er Mauke draussen bemerkte, dienerte er. Was hatte der Kerl für ein fatales Lächeln!
Verstimmt kam der Sekretär heim. Er sah’s Mariechen an, sie war enttäuscht, sie hatte gehofft, er würde die Schuhchen mitbringen. Ihr Kuss schien ihm kühler als sonst; wie ein Hauch, in wehmütiger Entsagung, berührten ihre Lippen seine Stirn.
Die Schuhchen, die Schuhchen! Es war ihre fixe Idee. Sie ging heimlich und sah sie wieder und wieder an.
Es wurde herbstlicher, kalte Regengüsse kamen und peitschten die letzten Blätter von den Bäumchen. Durchfröstelt, zerzaust vom Wind, stand die junge Frau am Ladenfenster und träumte.
O, wenn es erst in den Schuhchen lief, das liebe, kleine Kind! Sie würde es an die Hand nehmen und führen, es sollte dem Vater entgegentrippeln. Wie die Füsschen sich beeilten! Dann würde der nicht mehr unwirsch sein, dann würde er sich auch freuen über die braunen Schuhchen.
‚Lauf, lauf! Fall nicht! O mein Kind, mein liebes Kind in deinen kleinen Schuhchen!‘ — — —
Sie schreckte zusammen, der Alte hatte die Ladentür geöffnet und sah sie scharf an.
„Wünschen Sie etwas, meine Dame?“
Rot werdend zog sie ihre Hand zurück, sie hatte mit den Fingern liebkosend am Glas des Schaufensters auf und ab gestrichen. „Ich, — ich, — was kosten die kleinen Schuhchen?“
„Ach, die Erstlingsschuhchen! Gefallen Ihnen wohl? Billig, enorm billig! Bitte, treten Sie näher!“
Sie folgte ihm hinein, wie magnetisch gezogen.
Er streckte seinen dünnen Arm aus und langte die Schuhchen aus dem Schaufenster; mit den mageren Zeigefingern spiesste er sie auf und hielt sie ihr vors Gesicht. „Eminenter Gelegenheitskauf! Nur noch dies einzige Paar da. Sie sollten sich das nicht entgehen lassen, werte Dame! Darf ich sie Ihnen einwickeln?“
„Ich danke,“ sagte sie hastig, „nein, nein, ich kann nicht, — ich danke!“
„Sie werden sie doch noch holen!“ Er sah sie böse an. Lange konnte sie seinen tückischen Blick aus den tiefen, dunklen Augenhöhlen nicht vergessen.
Mit nassen Füssen, mit verwehtem Haar, aufgelöst vom Kampf gegen Regen und Wind, durchfroren vom langen Stehen, kam sie heim.
Seit jenem Tage kränkelte sie, sie hatte sich erkältet. Als ihr Kind geboren wurde, war sie sehr schwach. Sie hustete und fieberte und konnte noch nach vier Wochen das Bett nicht verlassen. —
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