Clara Viebig - Die Osterglocken

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Die in diesem Buch vorliegenden Novelletten, Erzählungen und Betrachtungen erweitern das bisher bekannte Bild der Schriftstellerin Viebig und ihrer Arbeit, da in den Texten interessante neue Facetten ausgebreitet werden. So lernen wir die in Trier geborene Autorin nicht nur als Verfasserin von heimatlich-ländlich geprägten Texten, sondern auch als eine am politischen Tagesgeschäft interessierte und sozial engagierte Zeitgenossin, als eine begabte Märchenerzählerin und als Verfasserin von zwei Reise-Feuilletons, einer historischen Erzählung und einer Buchbesprechung kennen.
Die weitgehend unbekannten Texte wurden wiederentdeckt und zusammengestellt von Manfred Moßmann.

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© 2020 – e-book-Ausgabe

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Zell/Mosel

Brandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel

Tel 06542/5151 Fax 06542/61158

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-89801-898-2

Ausstattung: Stefanie Thur

Titel-Aquarell: Heinz M. Müller

Clara Viebig

Die Osterglocken

Wiederentdeckte Texte

Rhein-Mosel-Verlag

Einleitung

Bei meinen Recherchen in alten Zeitungsausgaben bin ich immer wieder auf Texte von Clara Viebig (1860 – 1952) gestoßen, die ich noch an keiner Stelle zuvor gelesen hatte.

So entstand die Idee, diese Lücke zu füllen und ein Buch mit unbekannten Texten zu machen. »Unbekannt« bedeutet hier, dass die Prosatexte in früheren Tagen in verschiedenen Periodika abgedruckt wurden, mittlerweile aber zum Teil in Vergessenheit geraten sind.

Clara Viebig war eine vielseitig interessierte, leistungsorientierte und sehr fleißige Schriftstellerin. Entsprechend umfangreich und kaum überschaubar ist ihr literarisches und nicht-fiktionales Werk. Neben den bekannten Romanen, z. B. »Das Weiberdorf«, »Die goldenen Berge« oder »Die Wacht am Rhein«, hat sie zu ihren Lebzeiten neben Essays und Rezensionen mehr als 100 Kurzprosatexte (Novellen, Erzählungen, Skizzen) in Zeitungen, Illustrierten und Magazinen veröffentlicht.

Ich schätze ihre Kurzprosa, z. B. »Das Heiligenhäuschen«, »Heinrich Feiten« oder »Die Heimat«, hoch ein, und bin der Meinung, dass diese im Großen und Ganzen nicht nur auf dem selben Niveau wie das der Romane anzusiedeln ist, sondern dass Clara Viebig gerade in der Gestaltung der Kurzprosa ganz erstaunliche Leistungen erbracht hat. So sind aus meiner Sicht ihre Novellen, die in der Eifel, an der Mosel oder in Berlin spielen, der bedeutendere und betrachtenswertere Teil des Werkes.

Die in diesem Buch vorliegenden Novelletten, Erzählungen und Betrachtungen erweitern das bisher bekannte Bild der Schriftstellerin Viebig und ihrer Arbeit, da in den Texten interessante neue Facetten ausgebreitet werden. So lernen wir die in Trier geborene Autorin nicht nur als Verfasserin von heimatlich-ländlich geprägten Texten, sondern auch als eine am politischen Tagesgeschäft interessierte und sozial engagierte Zeitgenossin, die u. a. ihrer Empörung über die Besetzung des Ruhrgebiets in literarischer Form Luft macht, als eine begabte Märchenerzählerin und als Verfasserin von zwei Reise-Feuilletons, einer historischen Erzählung und einer Buchbesprechung kennen.

Im Nachwort werde ich auf einzelne Beiträge genauer eingehen.

Manfred Moßmann

Achim, im Januar 2020

Die Osterglocken

Novellette

Leise rührt es an den Glocken. Kein voller eherner Klang, nur ein zartes Tönen – ein Hauch von oben weht über die engen Gassen der alten Stadt.

»Hörste?«, sagte das kleine Mädchen in der Rindertanzstraße und hob den kleinen Finger in die Höhe, »hörste, Sus, de Engelcher läuten!«

»Was – Engelcher?« Die große Schwester schüttelte gleichgültig den Kopf und zerrte die Kleine hinter sich drein. »Sie probieren nur – sieben Uhr – wart’, gleich läuten se Feierabend.« Sie seufzte auf und sah mit den großen umschatteten Augen trübselig vor sich hin. »Wieder ein Tag zu End’, und dann kommt wieder ein Tag und wieder einer – o Jeß! – und noch derzu morgen Ostern, ich wollt’, ich –«

»Still, Sus, hörste?«, flüsterte scheu die Kleine und faßte hastig nach dem Kleide der Großen, »hörste?«

Sie blieben stehen. Vom Dom her kam wieder das seltsame Läuten, oder war’s von der Liebfrauenkirch’? Kein regelrechtes Bimbam, nur ein schüchternes Bi – i – im – jetzt stockte es plötzlich, aus war’s!

»Was der Küster Cleren nur macht?« Susanna Schommer, kurzweg Sus genannt, sah sich verwundert um. »Se läuten ja e so komisch!«

Das Kind an ihrer Hand lachte über das ganze blasse Gesicht und nickte triumphierend. »Siehste, das is net der Herr Cleren, das sind de Engelcher, die sind vom Himmel geflogen un läuten nu de Osterglocken. Komm bei den Herr Lintz in de Fleischstraß’, Sus! Da kannste se kucken mit weiße Röckcher un Kränzcher auf em Kopf, da sind se abgemalt – komm, rasch!«

Kättchen Schommer, die kleine Lahme, zog die große Schwester eilig mit sich fort, sie lief, so flink sie konnte; die kranken Füße taten ihr weh auf dem holprigen Pflaster, aber sie rannte doch. Jetzt waren sie auf dem Domfreihof – im Dom alles still – merkwürdig, alles still! Aber von der Liebfrauenkirche ein volles, stattliches Läuten, ein ganzer Chor von Glocken fällt ein – und jetzt, jetzt – endlich! nun fängt’s auch vom Dom an!

»O weh!« – das Kind schlägt die Hände zusammen – »jetzt läuten de lieben Engelcher nimmeh, nu is es widder der Herr Cleren mit de Jungens! Die Engelcher sind net e so stark, die tun nur ganz leis’ dran tippen – gelt Du, Sus?«

»Bim – bam – bim – bam« – von allen Kirchen der alten Stadt rufen die ehernen Stimmen, von allen Kapellen gesellen sich hellere Stimmlein zu. Das sind mächtige Tonwellen, die ins Land hinaus strömen, mächtige Klänge, die der Welt verkünden: »Wir tönen! Wir läuten! Freut Euch des Festes!«

Da ist niemand in der ganzen Stadt, der das nicht hören könnte; über die grauen Schieferdächer ruft es hin, über die blaue Mosel, über die Berge jenseits mit dem wunderbaren Rot der Felsen und den frühen Blütenbäumen am Fuß, über die Rasenhänge am Wald mit den ersten scheuen Blumen. Und die gelbe Primel, der Himmelsschlüssel, schlägt die Glöckchen aneinander und klingelt mit im großen Chor: »Ich töne! Ich läute! Ich schließe den Himmel auf, den Frühlingshimmel – er ist offen, tretet ein!«

Ostern, Ostern! Sonst läuten die Glocken alle in Moll, heute läuten sie in Dur; wer nur die Modulation recht verstehen kann!

Schommers Sus verstand sie nicht. Sie lehnte mit der kleinen Schwester an dem blanken Messingstabe vor dem Schaufenster der großen Buchhandlung in der Fleischstraße und drängte das Gesicht an die Scheiben. Da waren viel Osterkarten ausgelegt, bescheidenere und reichere, geschmacklose und geschmackvolle; überall Frühlingsblüten, blau, weiß, rote, Ostereier, Osterhasen – aber eine, eine in der Mitte –

»Hah!« Die blassblauen Augen des Kindes wurden dunkelglänzend, es wies kramphaft mit dem Finger hin: »Kuckste, kuckste. Da sind se – o die Engelcher, wie goldig, wie lieb!«

Ja, richtig, zwei Engel in weißen Kleidern mit lächelnden Mienen, Kränze im Haar, läuteten große Glocken, die vom Himmel zur Erde hingen; und in den Glocken stand es mit goldenen Buchstaben – Sus entzifferte sie brennenden Blickes –

Wir künden und wir sagen

Von Auferstehungstagen!

Es läuten mit Frohlocken

Die Engel Osterglocken.

***

Fröhliche Ostern!

»Mir nicht – mir nicht,« murmelte Susanna Schommer und zog fröstelnd ihr ärmliches Tuch um die Schultern. Sie wandte den Blick von dem hell erleuchteten Schaufenster ab – wie trüb und düster die Straße schon! Graue Dämmerung kam niedergeflogen und überwob alles mit spinnwebfarbenem Schleier – die blankgeputzten Scheiben, die frisch aufgesteckten Gardinen, das papierblumengeschmückte Lamm bei Metzger Dietrich, die Fastenbrezeln und die zuckerbestreuten Rodonkuchen beim Bäcker an der Ecke. Die Glocken hallen nicht mehr, mit einem letzten »Bum« sind sie verstummt. Es ist fast finster.

»Komm!«, sagte Susanna Schommer eintönig und beugte sich zu dem Kinde nieder, das müde die lahmen Füße schleppte. – »Leg Deine Ärmcher um meinen Hals, ich tragen Dich!« Und so schritten sie miteinander die bunten Läden entlang, die belebte Straße hinunter, immer weiter, einen langen Weg, bis die Gegend armselig wurde und düster; da wohnten sie. Das schlanke Mädchen hielt den Kopf aufrecht – was war die leichte Last der Schwester? auf dem Herzen lag eine weit schwerere. Die hübschen traurigen Augen blickten gradaus vor sich ins Leere – ach, zwanzig Jahre und kein Lachen mehr, das ist ein Frühling ohne Blumen.

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