Die kleine Braut seufzte und liess den Kopf hängen.
„Ach ja, Sie goldenes Herz!“ Frau Rätin umarmte die junge Dame liebevoll. „Sie haben so viel Gefühl, so die rechte Weiblichkeit. Möchte Nelda doch die von Ihnen lernen!“
Nelda gab der Freundin das Geleit vor die Haustür. Mit ihren kräftigen Armen hob sie die leichte Gestalt fast in den Wagen, dann schwang sie sich selbst aufs Trittbrett und drückte ihr, von einem plötzlichen Mutwillen erfasst, einen brennenden Kuss auf den Mund.
„Bild dir ein, dein Bräutigam war’s,“ flüsterte sie lachend.
„O wie du küssen kannst — mein Gott, Nelda!“
„Ja, das liegt nun mal so drin. Adieu, Agnes!“
Sie sprang zurück, die Equipage rollte davon und verschwand bald in der Dämmerung.
Nelda stand noch vor der Haustür; es war ihr nicht kan, im Gegenteil, der Wind wehte lau vom Rhein her und spielte mit dem Haar an ihren Schläfen. Schattenhaft hoben sich die Berge vom Abendhimmel; noch waren die Büsche an ihrem Fuss ganz kahl, an den Chausseebäumen keine treibenden Blattknospen, und doch war schon Frühling in der Luft. Die Dämmerung hatte ein weicheres Grau, der Rhein rauschte, von geschmolzenem Eis und Schnee geschwellt.
Nelda hatte die Hände in die Schürze gewickelt und trat von einem Fuss auf den anderen. Sie mochte noch nicht hineingehen, es hielt sie etwas hier draussen fest wie mit Klammern, eine unwiderstehliche Lust. Es kam ja auch kein Mensch vorbei, die Chaussee so still. Da — Schritte!
Aus dem Grau löste sich eine Gestalt und kam näher, jetzt schimmerten goldene Uniformknöpfe. Nelda stutzte — wer war das? Eine jähe Hitze schlug ihr ins Gesicht.
Der achtlos Vorüberschreitende blieb plötzlich stehen, ein leises: „Guten Abend, Herr von Ramer,“ hatte sein Ohr getroffen.
„Ah — mein gnädiges Fräulein!“
Er fasste die ausgestreckte Hand des Mädchens und verbeugte sich:
„Wie befinden Sie sich, gnädiges Fräulein? Ich habe zwar nicht verfehlt, mich bei Xylanders zu erkundigen, wie Ihnen der Ball bekommen ist — seitdem sind aber sechs Wochen vergangen. Ich hatte nicht den Vorzug, Sie wieder zu sehen!“
Also er hatte sich nach ihr erkundigt! „O, es geht mir gut. Und Ihnen?“
Sie sah ihn forschend an, dabei lag eine so offne Freude auf ihrem Gesicht, dass er unwillkürlich lächeln musste.
„Ich bin dem Geschick sehr dankbar, das mich jetzt hier über die Chaussee führte! Ich bin zu Xylanders geladen, soll den heutigen Abend dort verbringen. Gehen gnädiges Fräulein nicht auch manchmal hin? Ich denke, Sie sind mit Frau Elisabeth befreundet?“
Nelda gab keine Antwort auf die Frage, sie sagte wie aus einem Traum heraus:
„Nein, wie ich mich freue, Sie zu sehen!“
Er schwieg verdutzt, ihre Freimütigkeit war erstaunlich — aber mit einer alltäglichen Höflichkeitsphrase darauf antworten? Nein! So schwieg er.
Sie gingen langsam wenige Schritte auf und nieder. Er sah sie verstohlen von der Seite an: sie hatte doch etwas ungemein Frisches und Nettes, etwas so wohltuend Ungekünsteltes! Mit unwillkürlichem Bedauern glitt es ihm über die Lippen:
„Schade, dass Sie heute abend nicht bei Xylanders sind! Schade!“
„O,“ — sie lachte fröhlich — „wenn ich will, kann ich ’rüber kommen! Bei Xylanders kann ich auch ungeladen erscheinen, sie haben mich oft genug dazu aufgefordert; ich tu es nur selten, das ist’s. Aber wenn’s Ihnen angenehm ist — natürlich komme ich! Ich will es nur meiner Mutter sagen.“ Ein augenblickliches Bedenken liess sie innehalten. „Ah was, sie muss es erlauben!“
„Also auf Wiedersehn?“
Er hielt ihr die Hand hin, sie schlug ein.
„Auf Wiedersehn!“
Mit einem Nicken sprang sie ins Haus.
Während Ferdinand von Ramer mit einem gewissen angenehmen Gefühl der Erwartung die Schelle an Hauptmann Xylanders Tür zog, platzte Nelda in die Küche, wo Frau Rätin auf dem weissgescheuerten Tisch unterm Fenster Wäsche legte.
„Mama, ich geh heut abend zu Xylanders. Ja, lass mich gehen?!“
„Was fällt dir ein? Jetzt auf einmal zu Xylanders?! Nein, du musst nachher mit mir die grossen Stücke recken, die Laura hat keine Zeit. Du weisst, morgen fängt der Hausputz an, sie will sich vorher alles beiseite räumen!“
„Aber ich — ach Mama, lass mich doch gehn! Ich bitte dich, liebe gute Mama, lass mich doch gehn!“
Frau Dallmer war ganz erstaunt. Ihre Nelda so bitten —?!
„Na meinetwegen,“ sagte sie schwach. „Wenn ich nur wüsste, wie du auf einmal die Idee mit Xylanders kriegst! War einer direkt hier und hat dich aufgefordert? Das wäre was andres!“
Es schwebte Nelda auf der Zunge, ‚Ja‘ zu sagen, aber sie schämte sich der Lüge. Eine ganze Lüge wär’s zwar nicht gewesen, aber —. So schüttelte sie den Kopf.
„Es war keiner direkt hier, aber ich möchte doch gern — bitte, lass mich!“
„Ach Gott, was soll ich machen?! — So — — so greulich verzogen!“ Die kleine Frau hatte eben ein grosses Tischtuch vor und zerrte daran aus Leibeskräften.
„Dem Papa wird’s auch nicht angenehm sein, du solltest ihm heut abend vorlesen. Ja, meinetwegen lauf nur! Aber — Nelda, Nelda!“ Die Tochter war schon zur Küche hinaus. „Binde deinen grossen Spitzenkragen um, es könnte doch jemand da sein. Hörst du?!“
Nelda stand vor dem schmalen Spiegel in ihrer Stube und legte den Spitzenkragen über ihr einfaches Kleid. Er stand ihr gut. Der Spiegel zeigte ihr gerötete Wangen und belebte Augen; aus den Spitzen des Kragens hob sich der Hals schlank und weiss. Nelda starrte sich an — war sie das? Stand hier vorm Spiegel und putzte sich, einem Mann zu gefallen?! Was taten die andern Mädchen denn Schlimmeres?
„Nein!“ Sie riss den Kragen vom Hals und schlenderte ihn in den Kommodenschub, dann löschte sie hastig das Licht und rannte im Dunkeln die Treppe hinunter.
Zu ihrem Vater guckte sie einen Augenblick hinein, es brannte noch keine Lampe in der Stube. Der Rat war angegriffen und ruhte, dazu brauchte er kein Licht. ‚Sünde, das teure Petroleum so zu verkokeln,‘ pflegte Frau Rätin zu sagen.
„Papa, bist du böse, wenn ich zu Xylanders gehe?“
„O bewahre, amüsiere dich, mein Kind!“
Sie lief auf ihn zu und drückte ihre frischen Lippen auf seine heisse Stirn.
„Mein guter Papa — du bist sehr warm — adieu, adieu!“
Sie war so flüchtig, in Gedanken schon halb fort.
„Ah, Nelda! Welche Überraschung!“
Frau Hauptmann Xylander öffnete selbst, eine Schüssel Heringssalat in der Hand, sie wollte eben damit in die Essstube gehn. „Ah!“ Frau Elisabeth war aufrichtig erfreut, nur schoss ihr gleich durch den Kopf: ‚Da reichen die Eier nicht, ich muss noch zwei kochen lassen; Nelda hat guten Appetit.‘
„Aber nun legen Sie ab! Das ist wirklich lieb von Ihnen! Wie oft habe ich schon umsonst gebeten. Nein, ich bin ganz erstaunt! So — herein mit Ihnen! Paul, Herr von Ramer, wen bringe ich da?“ Die lebhafte Frau drehte das Mädchen um und um. „Nun sage, Paul, bist du nicht ganz verwundert?“
Nelda war eigentümlich berührt — dieses Erstaunen?! Hatte Ramer sie nicht angemeldet?
Nein. Hauptmann Xylander war ebenso überrascht wie seine Frau, nur betonte er’s nicht so; er zeigte bloss seine Freude.
„Wie hübsch, Fräulein Nelda, dass Sie uns das Vergnügen machen!“
Er hielt ihre Hand etwas länger, als gewöhnlicher Brauch, und sah das Mädchen wohlgefällig an. „Sie kommen so selten, verzeihen Sie daher unsere Überraschung!“
Nelda lachte, aber ihr Lachen hatte etwas Gezwungenes — warum hatte Leutnant Ramer nichts von ihr gesagt? War ihm das unangenehm gewesen?
Sie mass ihn mit einem eindringlichen Blick. Er machte eine tadellose Verbeugung.
„Sehr erfreut, mein gnädiges Fräulein! Habe lange nicht den Vorzug gehabt!“
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